César Luis Menotti: Der rauchende Mann

13 Tage vor

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Menotti - Figure 1
Foto ZEIT ONLINE

César Luis Menotti gab einem den Glauben, der Fußball, das ewige Gewinnen und Verlieren und Unentschieden, könne einen höheren Sinn haben. Was wird nun aus dem Sinn?

6. Mai 2024, 17:28 Uhr

César Luis Menotti, damals Trainer der argentinischen Fußballnationalmannschaft der Männer, raucht während der Fußball-WM 1982 in Spanien im Mannschaftsquartier der Argentinier in Alicante erst einmal eine Zigarette. © Karl Staedele/​picture alliance/​dpa

Sollten Sie etwas über den am 5. Mai 2024 gestorbenen César Luis Menotti als Fußballtrainer wissen wollen, sind Sie hier falsch, bitte gehen Sie dann weiter, lesen Sie den richtigen Nachruf.

Hier nun wird es allein darum gehen, was der Fußball sein kann, wenn er bereits den Zustand des unmittelbar Gespielten und von Expertinnen und Laien Besprochenen verlassen hat. Wenn Bilder und sogenannte Gefühle bereits in der Erinnerung vergilben, wenn das Eigentliche, der Fußball, Niederlage, Sieg, Unentschieden, längst weggeraucht ist. Das Rauchen nämlich, das selbstverständlich ungesund und niemandem zu empfehlen ist, spielte bei Menotti eine wesentliche Rolle in seiner sogenannten aktiven Zeit als Trainer, und darum gehört es hierhin, und es gehörte zwingend zu ihm. Möchte man versuchen, mit Menotti das Bild einer vergangenen vermeintlichen Geschlossenheit von Männlichkeit nachzuerzählen, die in einem großen Trotzdem endet, muss man sich eine Zigarette anzünden. Und sei es im Geiste. Mit den Zigaretten (die er im Alter aufgab) spottete Menotti seiner Gesundheit ebenso wie der Welt, und zugleich hielt er sich die Welt damit angenehm auf Abstand. So sah es jedenfalls aus.

Es gibt eine Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung, Nummer 25, 21. Juni 2013, auf dessen Cover ein Schwarz-Weiß-Foto des rauchenden Menotti abgebildet ist, leider ist das Foto nicht datiert, es stammt vermutlich von Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre. Kopfporträt, Zigarette im Mund, die rechte Hand hält den Stängel mit den Spitzen von Daumen und Mittelfinger, so rauchten Männer früher; Menotti trägt kein Oberteil, man sieht den Brustansatz, die angedeutete Nacktheit hat erstaunlicherweise nichts Obszönes, man sah den Trainer Menotti zu jener Zeit ums Jahr 1980 oft auch auf Bildern vom Trainingsplatz oben ohne, er hatte ja selbst Fußball gespielt, in Rosario und bei den Boca Juniors, und um die 40 war er immer noch fantastisch schlank; um den Hals trägt Menotti auf dem Foto eine dicke Goldkette, die Haare sind lang wie stets, die Koteletten bereits ergraut. Menotti ist hier sein eigener Archetyp: ein ganzer Mann. Im Sinne von: Da sind keine Brüche erkennbar, da ist Geschichte schon in einen Menschen eingesickert, und der ist damit einverstanden, er ist ganz bei sich, mit größter Selbstverständlichkeit, und auch darum unfassbar sexy. Sein linkes Auge fixiert die Kamera, das rechte scheint an ihr vorbeizuschauen. Dieser Mann posiert nicht, er ist einfach da und zugleich völlig woanders.

Das "SZ-Magazin" aus dem Jahr 2013 mit Menotti auf dem Titel © Cover SZ Magazin fotografiert von ZEIT ONLINE

Als das SZ-Magazin im Juni 2013 aus der Zeitung fiel, so glaube ich mich zu erinnern, war der Anblick dieses Covers ein Schock, weil damit unmittelbar eine Kindheitserinnerung zurückkam. Der Fußball mit seinen Saisons und internationalen Turnieren ist ja immer nebenher auch ein Zeitmessgerät fürs eigene Leben. Irgendwann springt man auf den Zeitzug nach Nirgendwo auf, in Richtung Titelhoffnungen und viel mehr Enttäuschungen. Was vorher los war im Fußball, erfährt man von den Älteren, so wie man später den Jüngeren vom Vergangenen erzählen kann, falls die es denn hören wollen. 1978 also, 35 Jahre vor jener SZ-Magazin-Ausgabe, Fußball-WM der Männer in Argentinien, die erste Weltmeisterschaft, die ich bewusst gesehen habe. Ich war sieben Jahre alt, wir waren im Urlaub, Südtirol, glaube ich.

Im Gedächtnis sind mir von dieser WM nur zwei Bilder hängengeblieben: Die Unmengen an Klopapierrollen, die in den argentinischen Stadien von den Fans heruntergeworfen wurden von den Tribünen, das Papier entrollte sich im Flug und musste dann aus den Sechzehnmeterräumen regelrecht weggeschaufelt werden in großen Klopapierbergen; und das Bild von Menotti, rauchend auf der Trainerbank. Er führte die argentinische Nationalmannschaft bei der Heim-WM zum Titel, während zur selben Zeit die Mörder der faschistischen Militärdiktatur die eigene Bevölkerung knechteten. Ein unauflösliches Dilemma muss das gewesen sein, zumal für einen Mann wie Menotti, der in Anlehnung an den portugiesischen Schriftsteller José Saramago von sich selbst als "hormonellem Marxisten" sprach.

Im SZ-Magazin vom 25. Juni 2013 war ein Interview mit Menotti. Anlass war, dass Pep Guardiola damals vom FC Barcelona (den Menotti in der Saison 1983/84 trainierte) zum FC Bayern München wechselte als Trainer und dass Guardiola Menotti verehrte. Der schwärmt in dem SZ-Gespräch zurück in Richtung Guardiola, Menotti schwärmte überhaupt wahnsinnig gut, etwa auch über den damaligen deutschen Fußball im Aufbruch. Menotti konnte ja nicht wissen, wie die WM ein Jahr später ausgehen würde; wie Argentinien gegen dieses neue Deutschland verlieren würde im Finale: mit einem wunderschönen Tor, am Ende eines ansonsten von beiden Seiten nicht sehr ansehnlich geführten Spiels.

Das SZ-Magazin-Gespräch ist eines von vielen bildhübschen Interviews, die Menotti in seinem Leben gegeben hat, insofern ist es gar nichts so Besonderes. Und doch, dieses endet mit einer epochalen Antwort auf die Frage, ob Fußball immer noch der beste Sport sei. Menotti sagt: "Fußball ist ein sehr weises und wunderschönes Spiel. Das Geheimnis des Fußballs ist Zeit, Raum und Täuschung. Wie im Leben. Mit der Zeit umgehen, Räume finden und mit der Täuschung zurechtkommen."

Über diese Aussage könnte man nun tagelang nachdenken, genauso wie über Menottis gerne zitierte, es gebe einen linken und einen rechten Fußball, und er habe selbstverständlich stets linken (nämlich schönen) und nicht rechten (nämlich zerstörerischen, weil rein ergebnisorientierten) spielen lassen. Womöglich käme man nach Tagen des Nachdenkens also zu dem Schluss, dass "Zeit, Raum und Täuschung" tatsächlich die Zauberformel des Fußballs UND des Lebens ist – oder, andere Möglichkeit, dass das Quatsch ist.

In jedem Fall aber sind Menottis Sätze reine Poesie. Und das ist dann vielleicht auch schon das große Geheimnis der Wirkung dieses Mannes auf viele Menschen, die heute älter sind als 50 und sich an Menotti noch rauchend auf einer Trainerbank sitzend erinnern können, als Bild aus der eigenen Kindheit: Menotti gab einem dem Glauben, der Fußball, das ewige Gewinnen und Verlieren und Unentschieden, könne einen höheren Sinn haben. Und dass dieser höhere Sinn unter anderem darin bestehen könnte, eine flüchtige Schönheit herzustellen, die im Augenblick des Geschehens auf dem Platz entsteht und sogleich wieder vergeht – und doch auf alle Zeiten weiter bestehen wird, als Erinnerung der Vielen an die Aktionen der Wenigen, der echten Helden, der Fußballer. César Luis Menotti saß dabei am Rand, eigentlich wie wir anderen. Nur hatte er sich im Unterschied zu uns anderen das alles ausgedacht: das, was da auf dem Platz geschah; und was es bedeuten könnte.

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