Erdogan bei Scholz: Klarer Dissens auf offener Bühne

17 Nov 2023
Erdogan

Stand: 17.11.2023 20:42 Uhr

Der türkische Präsident ist in Berlin vom Bundeskanzler empfangen worden. Gleich zu Beginn prallten ihre Positionen zu Nahost aufeinander. Während Erdogan eine Waffenruhe im Gazastreifen forderte, unterstrich Scholz das Existenzrecht Israels.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat bei seinem Besuch in Berlin die Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen untermauert. "Wir sprechen von 13.000 Kindern, Frauen, alten Menschen, die getötet worden sind", sagte er im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz im Kanzleramt. "Alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden."

Zugleich unterstrich er die Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand. Wenn Deutschland und die Türkei gemeinsam einen solchen Waffenstillstand erreichen könnten, habe man die Chance, die Region aus diesem "Feuerring" zu retten, ergänzte er. Jeder müsse sich für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen.

Der Besuch ist wegen der scharfen Verbalattacken Erdogans gegen Israel seit Beginn des Gaza-Kriegs umstritten. Erdogan hatte die Ermordung vieler Hundert israelischer Zivilisten beim Terrorangriff am 7. Oktober zwar verurteilt, die dafür verantwortliche Terrororganisation Hamas aber später als "Befreiungsorganisation" bezeichnet.

Israel warf er dagegen einen "Genozid" (Völkermord) im Gazastreifen vor und stellte sogar Israels Existenzrecht infrage. Israel versuche, "einen Staat aufzubauen, dessen Geschichte nur 75 Jahre zurückreicht und dessen Legitimität durch den eigenen Faschismus infrage gestellt wird", sagte er Ende vergangener Woche. Scholz hat die Vorwürfe Erdogans gegen Israel als "absurd" zurückgewiesen. Gleichzeitig erklärte Erdogan aber auch immer wieder seine Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung - eine Haltung, die er mit dem Bundeskanzler teilt.

"Existenzrecht Israels für uns unumstößlich"

Scholz betonte auf der gemeinsamen Pressekonferenz das Selbstverteidigungsrecht Israels. "Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstößlich". Israel habe "das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen".

An Erdogan gerichtet sagte Scholz, es sei "kein Geheimnis", dass "wir zu dem aktuellen Konflikt unterschiedliche, zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen haben". Erdogan und er teilten aber die "Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten", sagte Scholz bei der Pressekonferenz, die vor einem Gespräch und einem Abendessen der beiden Politiker stattfand.

"Jedes Leben ist gleich viel Wert", so Scholz weiter. Auch das "Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung" bedrücke die Bundesregierung. In dem Gespräch mit Erdogan solle es darum gehen, wie eine "weitere Eskalation in der Region" verhindert werden könne.

Eurofighter-Jets wohl weiteres Thema

Neben dem Krieg in Nahost und dem russischen Angriff auf die Ukraine dürfte es bei dem Treffen auch um die türkische Forderung zum Kauf von Eurofighter-Jets gehen. Ankara hat Interesse an 40 Kampfflugzeugen. Deutschland ist an der Produktion der Eurofighter beteiligt. Deswegen ist eine Zustimmung der Bundesregierung bei jedem Exportgeschäft erforderlich. Die Lieferung von Eurofightern nach Saudi-Arabien hat die Bundesregierung zuletzt unterbunden. Der Kampfjet wird in Großbritannien gefertigt.

Beide Seiten brauchen sich

Es wurde aber trotz der Meinungsunterschiede mit Blick auf Israel auch deutlich, dass beide Seiten ein hohes Interesse an einer Zusammenarbeit haben. Nach Einschätzung von ARD-Korrespondentin Tina Hassel strebt der Kanzler eine Neuauflage des EU-Türkei-Abkommens an, dafür seien neue Milliardenhilfen zur Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei im Gespräch. Die wiederum benötige das wirtschaftlich angeschlagene Land. Außerdem hoffe Erdogan auf Visa-Erleichterungen für Türken, die etwa ihre Familienangehörige in Deutschland besuchen wollen, so die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios.

Schwedens NATO-Beitritt verzögert

Zudem kündigte Scholz an, über das ausstehende Ja des türkischen Parlaments zur Aufnahme Schwedens in die NATO zu sprechen. Das scheint sich früherer Zusagen Erdogans zum Trotz weiter zu verzögern: Die zuständige Kommission im türkischen Parlament vertagte am Donnerstag ihre Entscheidung, laut türkischen Medienberichten auch auf Druck von Erdogans Parteikollegen. Es gebe noch weiteren Klärungsbedarf, hieß es. Wann das Thema erneut auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist unklar.

Erdogan war vor dem Treffen mit Scholz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen worden. Steinmeier machte nach Angaben des Bundespräsidialamts gegenüber dem türkischen Staatschef die "deutsche Position mit Nachdruck deutlich". Sprecherin Cerstin Gammelin erklärte dazu im Online-Dienst X, Steinmeier habe "die Einstufung des Überfalls der Hamas auf Israel als Terrorangriff und der Hamas als Terrororganisation unterstrichen". Zudem habe er "das Existenzrecht Israels sowie sein Recht auf Selbstverteidigung herausgehoben". 

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