„Polizeiruf 110“ aus Magdeburg: Mutterseelen, allein

Kleiner Spoiler: Es war die Mutter. Oder auch Pseudo-Mutter, also die von Beginn an leicht verrückt wirkende Inga (Franziska Hartmann), die mit Babypuppe auf dem Arm durch die Stadt läuft und gegen ihre Trauer nicht ankommt. Sie hat den Säugling entführt, den die junge Alleinerziehende Lana Stokowski (Hannah Schiller) kurz aus den Augen gelassen hatte.

Bevor es nun Morddrohungen hagelt wie weiland gegen Wolfgang Neuss, der 1962 in einer Zeitungsannonce den – wie Neuss später versicherte: erratenen – Täter einer schwer beliebten Krimiserie verriet („Der Halstuchmörder ist Dieter Borsche … Also: Mittwochabend ins Kino!“), sei zur Entlastung gesagt: Wenn im deutschen Krimi Babys entführt werden, stecken immer verrückte, trauernde Pseudo-Mütter dahinter. So war es schon im „Polizeiruf 110: Ein Fall ohne Zeugen“ (1970), so war es im „Tatort: Neugeboren“ (2021). Nur leichte Variationen des Themas sind möglich, wie in dem gelungenen „Polizeiruf 110: Das Beste für mein Kind“ (2017), in dem sich der biologische Vater in das Duell zweier Mütter einmischte.

Falsche Fährten

Der Film hält Ingas Schuld auch gar nicht geheim. Die Zuschauer sehen die Entführung schon in den ersten Sekunden und wissen von da an mehr als Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen), die zunächst einmal auf den fast wie eine Parodie wirkenden Falsche-Fährte-Verdächtigen Christian tippt: einen älteren, gut verdienenden Schnösel, der mit der Studentin Lana eine kurze Sexbeziehung hatte und alles für eine Fortsetzung tun würde (zu mehr als Telefonsex reicht seine Phantasie dann aber nicht).

Tatsächlich, auch das wissen die Zuschauer lange vor der mitfühlenden Ermittlerin („Ich war alleinerziehend und auch mal Kaffee holen“), war der sich bald um Kopf und Kragen lügende Lüstling (Max Hemmersdorfer) zur Tatzeit am Tatort. Andererseits behauptet er, Lana habe vielmehr ihn gestalkt, wofür es sogar ein kleines Indiz gibt. So öffnet sich ein Fenster hin zu der Möglichkeit, dass wir vielleicht nicht die ganze Wahrheit gezeigt bekommen haben. Aber zack, ist das Fenster schon wieder zu, steht Christian vor dem Haus der verzweifelten Mutter und schreibt ihr schmierige Nachrichten.

Jede Menge Zufälle

Lana, trotzig, unkonventionell, selbstbewusst – und bewaffnet –, wirkt dabei eigentlich nicht wie jemand, der Verrückte anzieht, und doch hat sie nun schon mit zwei Menschen zu tun, deren aus den Fugen geratene Sehnsucht sich zu blindwütigen Besitzansprüchen steigert. Dieser Zufall ist freilich dezent im Vergleich zu jenen, die noch folgen und die von der Autorin Khyana el Bitar durchaus augenzwinkernd eingesetzt werden, um die psychodramatische Handlung gewitzt zu strukturieren.

So kommt Braschs Kollege ins Spiel, der unauffällige, immer anzugtragend korrekte und meist leise griemelnde Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler), der sich zwar in den Urlaub aufmachen möchte, aber sein bestelltes Taxi nie besteigen wird. Er schleppt zuvor noch einen Kinderwagen zu der jungen Mutter, die über ihm wohnt. „Was ist denn mit den blonden Haaren passiert“, fragt der Kriminalrat jovial, als er den dunkelhaarigen Säugling sieht. Kein Lemp, wer Böses dabei denkt: Das ist wohl bei Säuglingen so, scheint er zu glauben. Aber dieses Risiko will die Raubmutter, um die nämlich handelt es sich, nicht eingehen. Von da an überschlagen sich die Ereignisse, in die Lemp – immer ganz zufällig – noch auf andere Weise involviert ist.

Spiel mit dem Genre

Handelsüblicher Realismus ist die Sache von Regisseur Jens Wischnewski nicht. Ihm geht es um innere Glaubwürdigkeit, was gut funktioniert, weil die tragenden Rollen charakterstark verkörpert werden. Mehr aber noch interessiert er sich für das Spiel mit den Topoi des Genres, die sozusagen vor laufender, neugieriger, fast frecher Kamera (Jakob Wiessner) seziert und oft gegen sich selbst gewendet werden: die Geiselsituation, das Psychoduell, das Schlafpulver im Getränk, die Fesselung und Entfesselung, die Trauma-Vererbung, die psychopathologische Abweichung vom Otto-Normal-Verbrecher.

Lana Stokowsky (r., Hannah Schiller) wird von Doreen Brasch (Claudia Michelsen) in Gewahrsam genommen: Szene aus „Polizeiruf 110: Du gehörst mir“.

Trailer : „Polizeiruf 110: Du gehörst mir“

Video: ARD, Bild: Felix Abraham/MDR/dpa

Über allen Bildern liegt ein leichter Gegenlicht-Nebel, der die Wahrnehmung trügt, was wie die geringe Tiefenschärfe sehr gut zur inneren Verfassung der Protagonistin passt, aber auch zur Belämmertheit Lemps. Der nämlich laboriert den ganzen Film über an einigen wohlgesetzten Hieben und scheint sich in der Gegenwart der ebenso liebevollen wie rücksichtslosen Entführerin nicht nur unwohl zu fühlen. Dass sich die Dinge dann vorhersehbar zuspitzen und irgendwann auch der obligatorische Todesfall zu beklagen ist, gehört wieder zu den Regeln des Genres, aber auch hier gewinnen Khyana el Bitar und Jens Wischnewski der Plot-Routine einige schöne Volten ab. Und sie sind noch nicht fertig mit ihrer unbekümmerten Akkumulation erstaunlicher Zufälle. Das alles kann nur aus einer starken auktorialen Position heraus apart sein, und darin enttäuscht dieser Film nicht.

Niemand wird belehrt

Die Verzweiflung und der Schmerz der beiden Mütter werden – anders als die Nöte des aufdringlichen Verfolgers Christian – nicht diskreditiert, aber der Film steigert sich in seine nicht allzu originelle Psychologie auch nicht hinein, sondern bleibt erzählerisch auf emotionaler Distanz. Es gab schon beklemmendere Situationen auf diesem Sendeplatz. Dafür wird hier nichts und niemand mit irgendwas belehrt. Der Film spielt sich auch nicht als philosophische Meditation über Besitzdenken und Freiheit auf, was nahegelegen hätte. Trotz des Verzichts auf die beiden entscheidenden Krimifragen – das Wer und das Warum sind schließlich von Anfang an bekannt – bekommt die Handlung dennoch eine eigene Dynamik.

„Du gehörst mir“ ist ein Krimi, der seine eigenen Bedingungen, Codes und Begrenzungen ausstellt und gern spielfreudig unterläuft: kein überwältigender, aber doch gelungener Einstieg in die neue Mord-und-Ratschlag-Saison. Kurz: Die Täterin ist Inga Werner . . . Also: Sonntagabend vor den Fernseher!

Der Polizeiruf 110: Du gehörst mir läuft an diesem Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten