Überschwemmungen in Russland: Letzte Hoffnung Wladimir Putin

Letzte Hoffnung Putin – die Überschwemmungen in Russland legen Fehler im System offen

In den Hochwassergebieten am Ural ist das Vertrauen in die Behörden gering. Die Folgen des Krieges gegen die Ukraine vergrössern die Missstände zusätzlich.

Überschwemmungen in Russland - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

In Orsk am Ural stehen seit Tagen grosse Teile der Stadt unter Wasser.

Vladimir Astapkovich / Imago

Wo die Steppe beginnt, breitet sich jetzt eine hellbraune Wasserfläche aus. Der Ural und verschiedene kleinere Nebenflüsse haben grosse Teile der Stadt Orsk überschwemmt. Tausende von Häusern stehen im Wasser, manche bis unter das Dach. Um mehrere Meter stieg der Fluss über seinen normalen Pegel; der Damm, der die am östlichen Ufer gelegene Altstadt und die Umgebung schützen sollte, brach an mehreren Stellen ein. Die Katastrophe, die mittlerweile auch die flussabwärts gelegene Regionalhauptstadt Orenburg getroffen hat, war vorhersehbar.

Trotzdem liessen sich die Behörden überrumpeln. Eilig versuchen sie seither, den politischen Schaden zu begrenzen, nachdem sie mit ihren ersten Reaktionen versagt haben. «Putin, hilf!», riefen am Montag aufgebrachte Betroffene vor dem Sitz der Stadtregierung aus, weil sie sich von den örtlichen Behörden im Stich gelassen fühlten. Wie immer bei Not und Verzweiflung ruht die letzte Hoffnung der Russinnen und Russen auf dem Präsidenten. Dabei legen gerade diese Katastrophe und der Umgang damit sehr viel vom Wesen von Wladimir Putins bald 25-jähriger Herrschaft offen.

Orsk steht unter Wasser
Vom Staat im Stich gelassen

Putin dachte gar nicht daran, die Opfer der Überschwemmung zu besuchen. Im Unterschied zu Politikern in demokratischen Ländern, von denen der Besuch an Schauplätzen von Katastrophen erwartet wird, tut Putin stets so, als stehe er über den Dingen. Er schickte nur zwei seiner Minister in die Stadt. Sie dienten, zusammen mit dem Bürgermeister und dem Gouverneur der Region, als Blitzableiter für den Zorn der Bevölkerung, fachten diesen aber zum Teil noch stärker an.

Der Katastrophenschutzminister Alexander Kurenkow behauptete, die Betroffenen hätten frühzeitige Evakuierungsaufforderungen als Witz abgetan. Solche hatte es aber gar nicht gegeben. Der Gouverneur der Region Orenburg, Denis Pasler, lud nach der Kundgebung vor dem Orsker Rathaus eine Gruppe von Bürgern zum Gespräch, aber herrschte sie an, er habe ihretwegen seine ersten Ferien seit fünf Jahren nicht antreten können. Im Übrigen litten auch andere unter Hochwasser. Am Mittwoch zeigte er sich an der Seite des Bauministers Irek Faisullin konzilianter. Die beiden versprachen grosszügige Kompensationen und den Wiederaufbau aller zerstörten oder beschädigten Häuser und öffentlichen Einrichtungen.

Das Hochwasser hat mittlerweile die Regionalhauptstadt Orenburg erreicht.

Maxim Shemetov / Reuters

Das Misstrauen in die Vertreter des Staates ist riesig, vor allem bei denen, die alles verloren haben. Sie glauben nicht daran, dass sie all das, was sie an jahrelangen eigenen Investitionen in ihre Häuser steckten, zurückbekommen. Noch zwei Tage vor dem Dammbruch hatte der Bürgermeister Wasili Kosupiza die Einwohner in Sicherheit gewiegt. Als das Wasser dann doch kam, waren die Rettungskräfte überfordert, obwohl sie Verstärkung aus anderen Regionen erhielten.

Die Bewohner halfen sich gegenseitig – holten mit Booten Leute aus ihren überschwemmten Häusern, karrten Trinkwasser heran, das in den Läden ausverkauft war, oder bauten spontan Verpflegungspunkte auf. Vom Staat dagegen fühlten sich viele im Stich gelassen. Niemand wolle Verantwortung übernehmen, klagten sie in den vergangenen Tagen; die Behörden seien auf nichts vorbereitet gewesen.

Das Geld verpufft im Krieg

Dass sie in ihrer Ohnmacht allein auf Putin hoffen, hat seine Logik, aber verweist gerade auf das eigentliche Problem: Putin hat so sehr alle Macht im Kreml konzentriert, dass gar nicht mehr vorgesehen ist, untere Chargen eigenverantwortlich handeln zu lassen. Kosupiza, Pasler und auch die Minister sind fast nur noch ausführende Organe. Sie haben kein Interesse, sich an schwierigen Fragen die Finger zu verbrennen, sondern zeigen Eigeninitiative dort, wo sie den grössten Nutzen für ihre Karriere vermuten.

Gesellschaftliches und politisches Engagement, das ein Gegengewicht zur trägen und verantwortungslosen Verwaltung darstellen könnte, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Russland immer stärker marginalisiert. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine wird es geradezu obsessiv als Bedrohung für den Staat empfunden und verfolgt. In der Not zeigt sich allerdings die Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dieser ist echt. Er richtet sich aber eher gegen den Staat. Er versammelt nicht, wie Putin das gerne postuliert, die Bevölkerung hinter dem Staat und seinen Vertretern.

Vermutete Schlampigkeit und Korruption beim Bau des Dammes verwundern niemanden, zumal die einst blühende Industriestadt Orsk seit Jahren im Niedergang begriffen ist. Der Krieg verschärft die Lage. Riesige Summen verschwinden unproduktiv in der Rüstungsindustrie, im Militär und in kriegsbedingten Sozialausgaben. Für die Modernisierung der oftmals maroden Infrastruktur, die sich im Winter bei Tiefsttemperaturen am Beispiel ausgefallener Heizsysteme gezeigt hat, fehlt jetzt erst recht das Geld.

Diese Zusammenhänge und Putins Verantwortung dafür sehen die meisten der vom Hochwasser Betroffenen nicht. Vielleicht gehen sie ohnehin davon aus, dass dieses Geld auch in Friedenszeiten nie zu ihnen gekommen wäre. Die Diskrepanz zwischen Putins grandiosen Zukunftsplänen, wie er sie in seiner Rede zur Nation vor der Präsidentschaftswahl gezeichnet hat, und der Realität am südlichen Ural ist riesig. Politische Sprengkraft hat sie vorläufig aber nicht.

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