Neues »Spider-Man«-Epos: Ein Triumph der Animationskunst

1 Jun 2023

Szene aus »Spider-Man: Superhelden-Mythos, alternativ erzählt

Foto: Everett Collection / IMAGO

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Spider-Man: Across the Spider-Verse - Figure 1
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Wenn selbst der Regisseur einer der erfolgreichsten Superheldenfilme von »Superheldenmüdigkeit« spricht, dann ist die Krise eines des umsatzstärksten Kino-Genres des letzten Jahrzehnts wohl nicht mehr zu leugnen. »Ich glaube, es gibt so etwas wie eine Superheldenmüdigkeit. Ich glaube, das hat nichts mit den Superhelden selbst zu tun. Es hat mit der Art der Geschichten zu tun, die erzählt werden, und damit, das Wichtigste aus den Augen zu verlieren, nämlich den Charakter. Wir lieben Superman. Wir lieben Batman. Wir lieben Iron Man. Weil es diese unglaublichen Figuren sind, die wir im Herzen tragen. Und wenn es auf der Leinwand nur noch ein Haufen Unsinn ist, wird es wirklich langweilig«, sagte James Gunn kürzlich in einem Interview .

Der US-Filmemacher hat für Marvel, den Marktführer der Comic-Blockbuster, den dritten Film der Reihe »Guardians of the Galaxy« gedreht, dessen weltweiter Umsatz gerade 700 Millionen Dollar überschritten hat. Wo ist also die Krise?

Gunn begründet den Erfolg seines Films damit, dass die Geschichten seiner galaktischen Antihelden-Truppe etwas außerhalb des großen Marvel-Story-Universums spielen, das mache es einfacher. Nach dem großen »Endgame«-Event der »Avengers«-Reihe, einem der weltweit erfolgreichsten Filme aller Zeiten, sei jedoch spürbar, dass Marvel Mühe habe, mit den aktuellen Narrativen seiner Filme wieder Tritt zu fassen. Jüngste, eher unbeeindruckte Publikumsreaktionen auf »Ant Man & The Wasp: Quantumania« scheinen das zu bestätigen.

Peter Parker? Nee: Miles Morales ist ein »Spider-Man« aus einem alternativen Universum

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Szene aus »Spider-Man: Across the Spider-Verse«: Gleichberechtigt über Kopf

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Neigt sich die glorreiche Ära der Superhelden im Kino, die 2008 mit Marvels »Iron Man« begann, also ihrem Ende zu? Ist das eingetreten, was Kritiker des Genres immer schon behaupteten, dass die inhaltlich zunehmend überladenen Superheldenfilme nur noch Spektakel ohne Sinn und Verstand sind?

Spider-Man: Across the Spider-Verse - Figure 2
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Just in diesem Moment des Zweifelns kommt ein Film ins Kino, der das Zeug hat, all diese Befürchtungen zu zerstreuen: »Spider-Man: Across the Spider-Verse« zeigt auf beeindruckende Art, wie das Medium Comic mit all seinen visuellen Eigenarten spektakulär auf die große Leinwand übertragen werden kann – und erzählt gleichzeitig die zu Herzen gehende Geschichte zweier unglücklich verliebter Teenager vor großer Spektakelkulisse.

Der Film dreht sich um Comic-Geschöpfe von Marvel, wurde aber von Sony Pictures in Auftrag gegeben, den glücklichen Hütern der Kinolizenz für den berühmten Teenager, der durch einen Laborunfall mit den proportionalen Kräften und Fähigkeiten einer Spinne ausgestattet wurde. Allerdings heißt dieser Teenie hier nicht Peter Parker, sondern Miles Morales, ist Sohn eines Afroamerikaners und einer Puerto-Ricanerin, lebt nicht in Queens, sondern in Brooklyn – und stammt aus einem anderen Universum als der Spider-Man, den Autor Stan Lee und Zeichner Steve Ditko 1962 erschufen. Zur Seite steht ihm, als Kollegin wie als potenzielle Liebschaft, Gwen Stacy alias Spider-Gwen zur Seite, die in ihrer eigenen Realität ebenfalls eine Spider-Woman mit Superkräften ist. Können die beiden als Liebespaar zusammenfinden – oder kollabiert darüber das gesamte Universum, weil bestimmte Schicksale und Ereignisse im Leben jeder Heldenfigur konstant bleiben müssen? Es ist kompliziert.

»Spider-Man: Into The Spider-Verse« war ein Überraschungserfolg

Gar nicht kompliziert aber ist das, was »Across the Spider-Verse« gelingt: nichts Geringeres als die Übertragung von gezeichneten Comic-Panels in eine packende Kinodynamik. Der Film ist die Fortsetzung des 2018 gestarteten Experiments, »Spider-Man«-Geschichten aus der alternativen Miles-Morales-Welt auch auf der Leinwand alternativ zu erzählen – nicht, wie mittlerweile gewohnt, als Live-Action-Abenteuer mit realen Schauspielern, sondern mit den überwunden geglaubten Mitteln des Animationsfilms. »Spider-Man: Into The Spider-Verse« machte aus Sonys Not, nicht in Marvels Cinematic Universe mitmischen zu können, eine Tugend und schuf einen eigenen Kosmos. Der Film war ein Überraschungserfolg, der mit einem Budget von 90 Millionen Dollar weltweit fast 400 Millionen einspielte und einen Oscar als bester Animationsfilm gewann.

Spider-Man: Across the Spider-Verse - Figure 3
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Im zweiten Teil gehen die beiden »Spider-Verse«-Kinoschöpfer Phil Lord und Chris Miller folgerichtig aufs Ganze: Zahllose Spider-Charaktere aus diversen Medien, Epochen und Comic-Plots bevölkern den rasant geschnittenen Film. Comicfans werden lieb gewonnenen Figuren wie dem in einer möglichen Zukunft existierenden Spider-Man 2099 begegnen. Es gibt Auftritte einer schwarzen und sehr schwangeren Spider-Woman, und ein »Spider-Punk« mit hartem Cockney-Akzent spielt ebenso mit der wie Strandbuggy-förmige Peter Parkedcar von Parallel-Erde 53931. In einem eigenen, faszinierend südasiatisch geprägtem New York erscheint schließlich: Spider-Man India.

Spider-Man India: Südasiatisch geprägtes New York

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Filmcharaktere Spider-Man 2099, Vulture: Wie aus einem Comicheft herausgeschnitten

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Das Besondere – und Umwerfende: Jede einzelne der Welten, über die der Plot verteilt ist, hat ihre eigene Ästhetik: Spider-Gwens »Earth-65« wird in ineinanderfließenden Wasserfarben gezeichnet, Miles' Welt ist konturierter, aber auch düsterer, voller Schattierungen seiner inneren Identitäts- und Rollenkonflikte. Manche Figuren, darunter der aus einer anderen Realität eindringende Superschurke Vulture oder Peter Parkers Klon »Scarlet Spider«, wirken so schraffiert und roh, als wären sie geradewegs aus den Comicheften herausgeschnitten worden.

Es gibt viel, sehr viel zu sehen in diesem Sturm knallbunter Bilder, irrer Cameo-Auftritte und spektakulärer Action. Jede zweite Einstellung oder Szene möchte man sich als Poster an die Wand hängen. »Across the Spider-Verse« ist nicht nur ein Triumph der Animationskunst über die Limitierungen der Live-Action-Adaptionen des Comic-Mediums, sondern zudem auch der Beweis, dass Superheldenfilme Pop-Art-Kunstwerke sein können.

Spider-Man: Across the Spider-Verse - Figure 4
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Momente der Ruhe und des Realitätschecks findet der zuweilen überladen wirkende Film immer wieder in der Beziehung von Miles und Gwen. Beide Teenager haben in ihrem jeweiligen Alltag mit ganz normalen Teenagernöten zu kämpfen, Konflikte mit den Eltern oder die schier unlösbare Aufgabe, die mit großer Verantwortung einhergehende Superheldentätigkeit mit dem Büffeln für die Schule in Einklang zu bringen. Oder mit einer Liebe, die buchstäblich nicht von ihrer Welt ist.

»Eine Art Kreuzung aus Huckleberry Finn, Holden Caulfield und Hamlet«

»Spider-Verse«-Produzentin Amy Pascal

In einer wunderschön kitschigen Szene kleben diese neumodischen Updates von Romeo und Julia kopfüber am Balkon eines Wolkenkratzers – die pastellene Abendsilhouette Manhattans am Horizont. Es ist, natürlich, die Wiederholung eines ikonischen Spider-Man-Motivs: des im ersten Kinofilm von 2002 von Tobey Maguire und Kirsten Dunst dargestellten Kopfüber-Kusses. Doch hier herrscht ein sonst so seltenes, gleichberechtigtes Nebeneinander der Geschlechter. Beide Charaktere sind Superhelden, beide ihrer Welten stehen Kopf. Gwen Stacy, in den Comics oft zur Damsel in Distress verdammt, erhält ebenso viel Tiefe und Handlungsmacht wie ihr männlicher Gegenpart. Dem Flirt der beiden tut das keinen Abbruch, auch wenn es nicht zum Kuss kommt.

Die Stärkung weiblicher Spider-Charaktere ist vor allem Amy Pascal ein Anliegen. Die ehemalige Chefin von Sony Pictures handelte einst den Lizenzvertrag mit Marvel aus und brachte Sam Raimis erste »Spider-Man«-Trilogie auf die Spur. Inzwischen ist sie selbstständige Produzentin, behält sich aber vor, spezielle Spider-Man-Projekte in ihrer Hand zu behalten, darunter auch die erfolgreichen Real-Verfilmungen mit Tom Holland. Neben der »Spider-Verse«-Animationssaga, die noch einen dritten Teil haben wird, betreut sie zurzeit auch noch TV- und Filmpläne, die sich um feminine Spider-Nebenfiguren wie Silk, Silver Sable und Black Cat drehen. »Man muss sie genauso ernst nehmen wie die anderen Figuren, ihnen Leben einhauchen und herausfinden, wie sie ticken. Und vielleicht hat nicht jeder in der Vergangenheit viel Zeit damit verbracht, das zu tun, und ich denke, wir tun das jetzt«, sagt Pascal im Zoom-Interview.

Spider-Man: Across the Spider-Verse - Figure 5
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Die 65-Jährige bezeichnet sich nicht unbedingt als Comic-Liebhaberin, sondern als »Spider-Man-Person«. Der Marvel-Held sei ihr Liebling – und eine Figur, an der sich universell gültige Geschichten erzählen ließen: »Ich glaube, was Spider-Man, egal wer hinter der Maske steckt, so anders macht, ist, dass er ein ganz normaler Mensch ist, der die gleichen Probleme hat wie wir.« Er sei »eine Art Kreuzung aus Huckleberry Finn, Holden Caulfield und Hamlet. Und das sind drei wirklich gute Charaktere«, sagt die 65-Jährige. »Ihr Dilemma ist unser aller Dilemma, ob es nun Gwen oder Miles oder Peter ist.«

Pascal lobt die Leidenschaft, mit der ihre Schützlinge Lord und Miller sich in ihrem »Spider-Verse« bemühen, große Kunst zu schaffen, die sich gleichzeitig an ein großes Publikum richtet und das Genre zu ihren Ursprüngen zurückführt. Ihr neuer Film sei vielleicht die ideale Superheldencomic-Verfilmung in dem Sinne, »dass es sich wirklich wie ein lebendig gewordenes Comicheft anfühlt.«

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Der vermeintlich grassierenden Superheldenmüdigkeit sieht Pascal gelassen entgegen: »Es ist lustig, die Leute sagen das seit etwa 15 Jahren, und es scheint nicht, dass das Publikum die gleiche Müdigkeit spürt. Sind die Filme gut, werden die Leute auch hingehen.« Ihrem neuen, animierten »Spider-Man«-Film wird allein am US-Box-Office ein Startergebnis von mindestens 80 Millionen Dollar prognostiziert – nicht mehr ganz so weit entfernt von den 118 Millionen, die James Gunns dritter »Guardians«-Film umsetzte. Der erste »Spider-Verse«-Teil startete einst noch mit bescheideneren 35 Millionen.

Gunn, neben Pascal und Marvels Mastermind Kevin Feige der dritte große Player im Comic-Blockbuster-Game, wird sich die Performance von »Across the Spider-Verse« wohl sehr genau ansehen: Soeben hat er die Kinosparte bei Marvels Erzkonkurrenten DC Comics übernommen und arbeitet daran, das kreativ erschlaffte Film-Universum von Superman, Batman und Wonder Woman neu zu erfinden.

»Spider-Man: Across the Spider-Verse«: ab 1. Juni im Kino

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