Schweden in der Nato: Erdogan macht Weg frei – wird das Land ...

11 Jul 2023

Ein neuer Deal und viele Fragen

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Schweden - Figure 1
Foto RND

Ein schwedischer Soldat steht zwischen zwei Nationalflaggen.

© Quelle: picture alliance / dpa

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Nach der Zusage Erdogans wird Schweden aller Voraussicht nach 32. Mitglied der Nato. Das skandinavische Land hat einen langen und steinigen Weg zurückgelegt – in trockenen Tüchern ist jedoch noch nichts. Ein Überblick über die bisherigen Ereignisse und was noch kommen könnte.

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Als Schweden gemeinsam mit Finnland im Mai vergangenen Jahres den Nato-Beitritt beantragte, rechneten beide Länder mit einer schnellen Aufnahme in das westliche Militärbündnis. Mehr als ein Jahr später ist Finnland bereits Nato-Mitglied, Schweden musste sich in Geduld üben.

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Am Montag – unmittelbar vor dem Nato-Gipfel in Vilnius – wurde aber ein zentrales Hindernis aus dem Weg geräumt: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab seine Blockade auf und erklärte sich dazu bereit, die Dokumente für den Nato-Beitritt zur Zustimmung an das türkische Parlament weiterzuleiten.

Alle aktuellen Mitglieder des Militärbündnisses müssen einen neuen Nato-Beitritt ratifizieren. Schweden fehlt neben dem Ja aus Ankara auch noch die Zustimmung Ungarns, um 32. Mitglied der Nato zu werden.

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Was auf Schwedens Weg in die Nato bisher passiert ist und was noch kommen könnte:

Abschied von der Neutralität

Seit über zwei Jahrhunderten war Schweden an keinem Krieg mehr beteiligt. Die letzten Spuren schwedischer Feldzüge finden sich vor allem in Deutschland – am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig zum Beispiel, wo schwedische Soldaten 1813 im Kampf gegen Napoleon fielen. Oder bei Lützen, wo die Armee des Schwedenkönigs Gustav Adolf im Dreißigjährigen Krieg wütete. Danach hielt sich das skandinavische Land an seine strikte Neutralität, die es auch in den zwei Weltkriegen nicht aufgab.

Olof Palme (Archivfoto von 1985) war ein sozialdemokratischer schwedischer Politiker, der als zweimaliger Ministerpräsident als internationale Stimme für Abrüstung und Verständigung galt und sich für die Belange der Entwicklungsländer einsetzte. 1986 fiel er einem Anschlag zum Opfer.

© Quelle: picture alliance / dpa

Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung, der Nato beizutreten, eine enorme Kehrtwende. Schweden nahm im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie während des Kalten Kriegs eine neutrale beziehungsweise blockfreie Position ein. Das Land betrachtete die Neutralität lange als zentralen Bestandteil seiner Sicherheitspolitik und nationalen Identität. Diese Neutralität wurde aber ab den 1990er-Jahren zunehmend aufgeweicht, in den vergangenen Jahren intensivierte Schweden bereits die Zusammenarbeit mit der Nato.

Ein kompletter Beitritt zum Militärbündnis wurde von der schwedischen Öffentlichkeit dennoch lange abgelehnt. Noch im November 2021 kündigte der damalige schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist an, dass Schweden niemals Mitglied der Nato sein werde, solange seine Sozialdemokraten an der Macht seien. Das war drei Monate vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. In dessen Verlauf änderte sich die öffentliche Meinung. Hultqvist und die Sozialdemokraten vollzogen einen Kurswechsel zugunsten eines Beitrittsantrags.

Schweden - Figure 2
Foto RND

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Die Türkei verzögert den Aufnahmeprozess

28 Nato-Mitgliedsländer stimmten den Beitrittsanträgen schnell zu. Doch die Türkei und Ungarn nicht. Erdogan argumentierte, die Türkei könne der Aufnahme Schwedens und Finnlands nur zustimmen, wenn diese gegen Gruppen vorgingen, die von der türkischen Regierung als Bedrohung wahrgenommen werden. Dazu gehört die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die von der EU als Terrorgruppe eingestuft wird.

Schweden hat in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende Kurdinnen und Kurden aus der Türkei, dem Iran und Irak als Geflüchtete aufgenommen. Von diesen sympathisieren einige mit der PKK.

Erdogan gibt Blockade von schwedischem Nato-Beitritt auf

Erdogan habe zugestimmt, das schwedische Gesuch an das Parlament weiterzuleiten, erklärte Nato-Generalsekretär Stoltenberg am Montagabend vor dem Nato-Gipfel.

© Quelle: Reuters

Um auf die türkischen Bedenken einzugehen, unterzeichneten Finnland und Schweden im vergangenen Jahr ein Abkommen mit der Türkei. Sie willigten ein, Waffenexporte an die Türkei wieder aufzunehmen, die nach einem türkischen Einmarsch in kurdische Gebiete in Syrien gestoppt worden waren. Zudem würden sie Anti-Terror-Gesetze verschärfen und mehr gegen PKK-Aktivitäten auf ihrem Staatsgebiet unternehmen, hieß es.

Proteste prokurdischer Aktivistinnen und Aktivisten und eines antiislamischen Aktivisten in Stockholm im Januar sorgten dafür, dass die Türkei die Nato-Beitrittsgespräche mit Schweden auf Eis legte. Aktivisten hatten eine Erdogan-Puppe an einer Straßenlaterne vor dem Stockholmer Rathaus aufgehängt. Ein Aktivist aus Dänemark verbrannte vor der türkischen Botschaft ein Exemplar des Korans. Die Regierung des schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson versuchte monatelang, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Als es so aussah, als hätten sich Schweden und die Türkei angenähert, wurde wieder ein Koran in Stockholm verbrannt – diesmal im Juni von einem irakischen Geflüchteten.

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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.

© Quelle: Francisco Seco/AP

Was die Türkei noch will

Analystinnen und Analysten vermuteten, dass sich Erdogan mit seiner Blockade moderne F-16-Kampfjets aus den USA sichern wollte. Beide Seiten betonten zwar, dass die Themen nichts miteinander zu tun hätten. In einem Telefonat mit Erdogan im Mai stellte US-Präsident Joe Biden indirekt aber selbst eine Verbindung zwischen dem Kampfjetanliegen und dem Nato-Beitritt her.

Wenn ihr den Weg für die Türkei ebnet, werden wir den Weg für Schweden ebnen, wie wir es für Finnland getan haben.

Recep Tayyip Erdogan,

Präsident der Türkei

Kurz vor der Abreise zum Nato-Gipfel in Vilnius am Montag äußerte Erdogan unerwartet eine weitere Forderung und irritierte damit die Bündnispartner. Er rief europäische Länder dazu auf, die seit Langem auf Eis liegenden EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei wiederaufzunehmen. „Wenn ihr den Weg für die Türkei ebnet, werden wir den Weg für Schweden ebnen, wie wir es für Finnland getan haben“, sagte Erdogan. Die Türkei genehmigte im Frühling den Nato-Beitritt Finnlands.

Schweden - Figure 3
Foto RND

Nach einem Treffen Erdogans mit Kristersson und EU-Ratspräsident Charles Michel gab Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montagabend einen Durchbruch bekannt: Erdogan werde das türkische Parlament über den schwedischen Nato-Beitritt entscheiden lassen, wenn es im Gegenzug eine engere Zusammenarbeit bei Sicherheitsthemen gebe und Schweden Bemühungen unterstütze, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei wiederzubeleben.

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Kristersson bezeichnete die Vereinbarung als „sehr großen Schritt auf dem Weg“ zur Nato-Mitgliedschaft, betrachtete diese aber noch nicht als sichere Sache. Er verwies darauf, dass der Zeitpunkt der Entscheidung des türkischen Parlaments über den Beitritt ungewiss sei.

Sind beim Thema EU-Beitritt der Türkei schnelle Fortschritte denkbar?

Die EU wirft der politischen Führung in Ankara seit Jahren vor, demokratische und rechtsstaatliche Standards zu missachten. Eine Aufnahme der Türkei in die EU gilt deswegen derzeit als illusorisch – auch wenn EU-Ratspräsident Charles Michel am Montag per Twitter nach einem Treffen mit Erdogan Entgegenkommen signalisierte und ankündigte, es sollten Möglichkeiten ausgelotet werden, wieder enger zu kooperieren und den Beziehungen neue Energie zu geben.

Wie kam es zum Umdenken Erdogans beim schwedischen Nato-Beitritt?

Erdogan selbst äußerte sich zunächst nicht öffentlich zu der Einigung. Eventuell konnte er die Blockadehaltung aus wirtschaftlichen Gründen nicht länger aufrechterhalten – und will die Zugeständnisse Schwedens nun kurzfristig als Erfolg verkaufen. Die regierungsnahe Zeitung „Sabah“ schrieb am Dienstag von einem „diplomatischen Sieg“. Grundsätzlich braucht Erdogan die Hilfe des Westens, um neue Investitionen zu mobilisieren. Die Türkei kämpft mit massiver Inflation und steht außerdem vor der Mammutaufgabe, nach den zerstörerischen Erdbeben im Februar den Wiederaufbau in den betroffenen Regionen zu finanzieren.

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US-Präsident Joe Biden will nach Angaben seines nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan zudem den Verkauf von F-16-Kampfjets an die Türkei vorantreiben. Auch wenn die US-Regierung in der Vergangenheit einen Zusammenhang mit dem Nato-Beitritt Schwedens verneint hat, kann Erdogan auch dies als Erfolg verkaufen.

Wie entscheidet sich Ungarn?

Ungarn hat keinen Grund dafür genannt, warum es den Nato-Beitritt Schwedens noch nicht ratifiziert hat. Bei einem Besuch in Wien in der vergangenen Woche bestritt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, dass die Mitgliedschaft Schwedens hinausgezögert werde. „Wir unterstützen den schwedischen Beitritt, aber das ungarische Parlament hat die Entscheidung noch nicht ratifiziert“, sagte Orban. „Wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Nato-Generalsekretär und den Türken. Wenn wir also etwas zu tun haben, werden wir handeln.“

Viele Beobachterinnen und Beobachter glauben, dass Ungarn dem Beitritt zustimmen wird, wenn die Türkei das tut. So hat das Land es auch bei Finnland gemacht.

Wie kann es jetzt weitergehen?

Im Idealfall für Schweden übermittelt Erdogan das Beitrittsprotokoll nun wirklich in Kürze an das türkische Parlament und die Abgeordneten stimmen noch vor der parlamentarischen Sommerpause zu. Dann könnte Schweden im Herbst 32. Bündnismitglied sein. Weil der Gesetzentwurf aber zunächst noch durch eine Kommission geschleust werden müsste, erwarten Beobachtende, dass sich das Parlament nicht vor Donnerstag damit befasst.

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Aufgrund früherer Erfahrungen mit Erdogan gibt es aber auch Befürchtungen, dass er irgendwann eine andere Interpretation der Abmachung reklamieren könnte – und dann zum Beispiel fordert, dass sich Schweden noch vor der Zustimmung des türkischen Parlaments aktiv für eine EU-Mitgliedschaft seines Landes einsetzen muss. Auch vor dem Nato-Gipfel im vergangenen Jahr sah es schon einmal so aus, als wäre die türkische Blockadehaltung passé und der Weg für Schwedens Mitgliedschaft frei – was dann aber doch nicht der Fall war: Die von Stoltenberg verkündete Einigung erwies sich als Trugschluss.

Was steht für Schweden auf dem Spiel?

Solange das skandinavische EU-Land nicht Nato-Mitglied ist, kann es im Fall eines Angriffs von außen nicht militärischen Beistand nach Artikel 5 des Nato-Vertrags einfordern. Zugleich dürften allzu große Zugeständnisse an die Türkei innenpolitische Risiken bergen und Gegnern der Nato-Mitgliedschaft in die Hände spielen. Schweden hatte wie Finnland erst im Frühjahr 2022 unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Mitgliedschaft in der Nato beantragt. Zuvor hatten beide Länder jahrzehntelang um einen breiten Konsens in der Frage gerungen und wegen gespaltener Meinungen im Volk und in der Politik stets auf einen Aufnahmeantrag verzichtet.

Und für die Nato?

Eine Bündniserweiterung würde nach Ansicht von Militärexpertinnen und Militärexperten der Verteidigung in Nordeuropa zugutekommen. Der Beitritt wäre demnach insbesondere aus strategischen Gründen attraktiv, weil dann die gesamte Ostseeküste – mit Ausnahme der Küste Russlands und seiner Exklave Kaliningrad – Nato-Gebiet wäre. Damit könnte zum Beispiel die Verteidigung des Baltikums im Fall eines russischen Angriffs erleichtert werden, weil Truppen und Ausrüstung künftig deutlich einfacher per Schiff über Schweden nach Estland, Lettland und Litauen gebracht werden könnten. Dabei spielt insbesondere die große schwedische Ostseeinsel Gotland eine Rolle.

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RND/AP/stu/dpa

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