Wieder Ärger mit den Underdogs?: Die deutsche EM-Gruppe steckt ...

27 Mär 2024

Zum ersten Mal seit 1988, damals noch ohne die neuen Bundesländer, findet in Deutschland wieder eine Europameisterschaft statt. In der Gruppe des DFB warten die Schweiz, Ungarn und Schottland. Die jüngere Geschichte zeigt: Viel schlechter hätte es nicht kommen können.

EM - Figure 1
Foto n-tv NACHRICHTEN

Im deutschen Fußball existieren derzeit zwei Wahrheiten. Die beiden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande haben das Land begeistert. Kaum ein Experte kann sich noch erinnern, wann der DFB zuletzt so schönen Fußball gespielt hat. Die Trikots verkaufen sich, die Torhymne stimmt auch endlich. Auskunft darüber, ob im eigenen Land das dritte Vorrundenaus in sechs Jahren folgt, gibt all das jedoch nur bedingt. Denn, und das ist die zweite Wahrheit, Frankreich und die Niederlande waren in den letzten Jahren selten das Problem.

Der 30. November 2019 lässt deutsche Fußball-Fans Schlimmstes erahnen. Bei der WM ein Jahr zuvor war das DFB-Team zum ersten Mal in seiner Geschichte in der Vorrunde ausgeschieden. Als Weltmeister. Im Jahr 2020 soll die Europameisterschaft unter anderem auch in Deutschland stattfinden (von einer Pandemie ahnt noch niemand etwas). Die erhoffte Wiedergutmachung bekommt bereits durch die Auslosung kurz vor dem letzten Monat des Jahres einen herben Dämpfer. Neben Ungarn sind Portugal und Frankreich in der deutschen Gruppe.

Auf Augenhöhe mit den Top-Teams

Doch allen Unkenrufen zum Trotz läuft die Vorrunde nicht schlecht. Gegen Frankreich verliert Jogi Löws Elf knapp mit 0:1, Portugal wird 4:2 geschlagen, weil Cristiano Ronaldos Kollegen Robin Gosens nicht in den Griff bekommen. Gegen Ungarn kassieren die Deutschen aber 2 Gegentore, mehr als ein Punkt ist nicht drin. Im folgenden Achtelfinale gegen die Engländer ist schließlich Schluss. Das Achtelfinal-Aus ist bitter, jedoch lief das Turnier bei Weitem nicht so furchtbar, wie erwartet. In Phasen ist die gescholtene DFB-Elf mit den Top-Teams auf Augenhöhe.

EM - Figure 2
Foto n-tv NACHRICHTEN

Die Gruppe für die viel kritisierte Wüsten-WM ein Jahr später in Katar liest sich da schon angenehmer: Costa Rica, Japan und Spanien. Gegen die spanischen Ballbesitz-Künstler reißt die DFB-Elf ihr bestes Spiel ab. Der 1:1-Ausgleichstreffer von Niclas Füllkrug ist wahrscheinlich der einzige Moment des Turniers, der auf dem emotionalen Seismografen Fußballdeutschlands einen Ausschlag verzeichnen kann. Doch gegen Japan setzt es eine Niederlage, beim Sieg gegen Costa Rica erzielt der DFB zu wenige Treffer fürs Weiterkommen.

Es muss einem Angst und Bange werden

Seit Jahren geht das jetzt so. Mit Ausnahme einer brutalen 0:6-Niederlage in Spanien 2020 geht der deutsche Fußball trotz seiner Krise in Spielen gegen Top-Teams nie unter, trotz aller voranschreitenden Verzwergung des DFB. Angesichts der Gruppe für die Heim-EM müsste allen Beteiligten also Angst und Bange werden. Zum ersten Mal seit der WM 2018, startet der DFB in einer Gruppe ohne Top-Nation. Auf das Eröffnungsspiel gegen Schottland folgen Ungarn und die Schweiz.

Die schottische Nationalmannschaft reist mit einer dominanten Qualifikation nach Deutschland. Eine Niederlage gegen Spanien müssen sie hinnehmen, in den anderen sieben Spielen bleibt das Team ungeschlagen. Zuhause erringen die Schotten sogar einen 2:0-Sieg über die Spanier. Mit 17 Punkten lässt der 151 Jahre alte Verband Norwegen, Georgien (die sich ebenfalls für die EM qualifiziert haben) und Zypern hinter sich. Parallel testet Schottland in den Freundschaftsspielen gegen die Elite. Die Ergebnisse sind ernüchternd: 1:3 gegen England, 1:4 gegen Frankreich, 0:4 gegen die Niederlande. Dazu kommt jüngst sogar eine 0:1-Niederlage gegen Nordirland. Seit dem 8.9.2023 hat die Mannschaft kein Spiel mehr gewonnen.

EM - Figure 3
Foto n-tv NACHRICHTEN

Auf dem Feld spielen die Schotten zumeist mit Fünfer- bzw. Dreierkette. Bekanntestes Gesicht des Kaders ist wahrscheinlich Kapitän Andrew Robertson. Der Linksverteidiger hat sich beim FC Liverpool unter Jürgen Klopp zu einem der Weltbesten auf seiner Position gemausert. Auch die anderen Top-Spieler kommen aus der Premier League. Scott McTominay pflügt seit Jahren das Mittelfeld im roten Teil Manchesters um (und entwickelt immer mehr Torgefahr). Neben ihm spielt häufiger Billy Gilmour von Brighton & Hove Albion, quasi dem englischen Pendant zum SC Freiburg. Linksverteidiger Kieran Tierney (zurzeit vom FC Arsenal an Real Sociedad San Sebastian ausgeliehen) muss in der Nationalelf häufig in die Innenverteidigung ausweichen. Die Mannschaft von Trainer Steve Clarke, der bereits seit 2019 im Amt ist, hat zuletzt vor allem gegen die Elite des Weltfußballs Probleme gehabt. Wenn die Moral nicht zu sehr unter der aktuellen Niederlagenserie gelitten hat und sie rechtzeitig ihre Quali-Form wiederfinden, könnten sie aber genügend Punkte zusammenbekommen, um ihren Aufenthalt in Garmisch-Partenkirchen zumindest noch bis zum Achtelfinale zu verlängern.

Rekordkurs und Euphorie

Mit Dominik Szoboslai wird Andrew Robertson während der Vorrunde auf einen Mannschaftskameraden treffen, der ebenfalls Kapitän seines Landes ist, und ebenfalls eine überzeugende Qualifikation für das Turnier hinter sich hat. Die Ungarn haben ihre Gruppe vor Serbien, Montenegro, Litauen und Bulgarien sogar gewonnen. Nach Abschluss des RB-Fußball-Diploms ging es für Szoboslai im letzten Sommer nach Liverpool. Der 23-jährige Mittelfeldspieler steht meistens in der Startelf der Reds und kommt wettbewerbsübergreifend derzeit auf zwölf Scorerpunkte in 33 Spielen.

EM - Figure 4
Foto n-tv NACHRICHTEN

Weiterhin bei RB Leipzig verdienen der kürzlich zurückgekehrte Torwart Peter Gulacsi und Verteidiger Willi Orban ihr Geld, die auch in der Nationalelf den Kern der Defensive bilden. Auch der SC Freiburg stellt mit Verteidiger Attila Szalai und Außenstürmer Roland Sallai gleich zwei ungarische Nationalspieler. Dazu gesellen sich aus Deutschland noch zwei Spieler aus der Hauptstadt: Marton Dardai von Hertha BSC sowie Andras Schäfer von Union Berlin. Fernab der Bundesliga-Legionäre ist die spannendste Personalie im Kader Linksverteidiger-Talent Milos Kerkez. Der 20-Jährige ist in der Nationalelf nicht aus der Startelf wegzudenken. Vor der Saison wechselte er vom AZ Alkmaar zum AFC Bournemouth in die Premier League, wo er bereits 21-mal zum Einsatz kam.

Zuletzt traf die ungarische Mannschaft vor zwei Jahren im Rahmen der Nations League auf Deutschland. In der Gruppe 3 holt die Mannschaft von Trainer Marco Rossi damals zwei Siege gegen England (4:0 und 1:0) und bleibt gegen Deutschland ungeschlagen (1:1 und 1:0). Nur gegen Italien setzt es zwei Niederlagen (1:2 und 0:2), seit dem Rückspiel am 26.9.2022 ist die Mannschaft ungeschlagen. Die 14 Spiele am Stück ohne Niederlage bedeuten Rekordkurs. Noch dominanter war nur die legendäre Mannschaft um Stürmer-Ikone Ferenc Puskas, die nach dem WM-Finale 1954 ganze 18 Spiele lang nicht verlor. Die Serie sorgt für Euphorie im Land. Etliche Fußballfans planen Besuche in Köln und Stuttgart, um ihre Mannschaft zu unterstützen, mehrere Flüge sind bereits ausgebucht.

EM - Figure 5
Foto n-tv NACHRICHTEN
Defensivsorgen bei den Nachbarn

Einen noch kürzeren Anreiseweg als die Ungarn haben die Fans aus der Schweiz, dafür dürfte die Vorfreude etwas geringer ausfallen. Die zum größten Teil aus der Bundesliga bekannte Mannschaft plagen vor allem Sorgen in der Defensive. Unter allen Teams, die sich direkt für die Euro qualifiziert haben, hat die Schweiz die meisten Gegentore (11) bekommen. Im Kalenderjahr 2023 bleibt die Mannschaft nur in drei Spielen ohne Gegentreffer, gegen Andorra, Israel und Belarus.

Dabei weist vor allem die Defensive individuelle Klasse auf. Schon die Tiefe auf der Torhüterposition ist beeindruckend. Yann Sommer (der im jüngsten Länderspiel verletzt ausgewechselt werden musste) beweist seine Klasse nach vielen Jahren in der Bundesliga derzeit bei Inter Mailand, Gregor Kobel schwingt sich beim BVB zum besten Torhüter der Bundesliga auf, dazu gesellen sich Borussia Mönchengladbachs Jonas Omlin und Ex-Leipziger Yvonn Mvogo, der mittlerweile beim FC Lorient spielt. In der Innenverteidigung ist Manchester Citys Manuel Akanji gesetzt, davor kann Trainer Murat Yakin auf Granit Xhaka zurückgreifen, der zurzeit Leverkusen durch eine unglaubliche Spielzeit führt.

Immerhin: Für die ersten beiden Länderspiele des EM-Jahres hält die weiße Weste. Nach einem 0:0 gegen Dänemark stellt Kapitän Xhaka fest: "Wir haben ein anderes Gesicht gezeigt und waren wieder eine Einheit." Es folgt ein 1:0-Sieg in Irland. Den Siegtreffer erzielt Veteran Xherdan Shaqiri, der mittlerweile bei Chicago Fire in der MLS kickt. Fernab vom Ex-Bayern bietet die Schweizer Offensive vor allem Potenzial. Die Angreifer Noah Okafor (AC Mailand), Dan Ndoye (Sampdoria Genua) und Zeki Amdouni (FC Burnley) sind allesamt 23 Jahre alt. Letzterer kommt in allen 10 Quali-Spielen zum Einsatz und erzielt sechs Treffer.

EM - Figure 6
Foto n-tv NACHRICHTEN
Qualitäten als Alleinunterhalter

Die Schweiz hat die Spieler, sucht aber noch seine Form. Schottland hatte die Form, geriet zuletzt jedoch ins Wanken. Und Ungarn könnte beim DFB-Team (und nicht nur da) für ernsthafte Probleme sorgen. Gemein ist allen drei Gegnern, dass sie als Team Defizite in der individuellen Klasse auffangen können. So wie Südkorea, Japan oder Mexiko.

Die beiden jüngsten Hochglanz-Spiele gegen die Niederlande und Frankreich zeigen das deutsche Potenzial für die K.-o.-Phase auf. Auf dem ganz großen Parkett kann Deutschland (wieder) mittanzen. Für eine erfolgreiche EM muss die Mannschaft des DFB jedoch ihr größtes Defizit der letzten Jahre abschütteln: Kann das Team auch Mannschaften gefährlich werden, die kein riesiges Interesse daran haben, am Spiel teilzunehmen und eher passiv agieren? Deutschland hat nach wie vor Probleme, wenn das Tempo aus dem Spiel ist. Vor allem gegen Schottland und Ungarn wird das der Fall sein. Das vorhandene Personal um die technisch starken Musiala, Wirtz, Kroos und Co. macht jedoch Hoffnung, dass Deutschland diese Aufgabe bei der Euro lösen kann. Auch der voraussichtliche Rückkehrer Leroy Sané kann diesbezüglich noch wichtig werden.

Unter Beweis stellen kann das deutsche Team diese neu erworbene Kompetenz schon vor der EM. Am 3. Juni trifft Deutschland auf die Ukraine, die ebenfalls bei der EM antreten wird (20.45 Uhr/ARD und ntv.de-Liveticker). Der finale Test folgt am 7. Juni gegen Griechenland (Anstoß 20.45 Uhr, LIVE bei RTL im Free-TV und im Live-Stream auf RTL+). Die Tests gegen die zwei "kleineren" Gegner bieten vor allem eine große Chance. Überzeugt die Mannschaft in beiden Spielen, steht der Euphorie vor der Heim-EM nichts mehr im Wege.

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten
Die beliebtesten Nachrichten der Woche