Sechsjähriger Junge in Bremervörde vermisst: Arian, wo bist du?

10 Tage vor

Sie haben die Stimmen aufgenommen, die von der Mutter und dem Bruder. Stimmen, die nach ihm rufen. Nach Arian, der seit Montag verschwunden ist. Suchtrupps spielen über Lautsprecher die Rufe ab, immer wieder. Im Wald, am Fluss, überall. Bisher ohne Erfolg. Von dem Sechsjährigen fehlt jede Spur. Es gibt allenfalls Vermutungen, welchen Weg er von zu Hause aus gegangen sein könnte, in welche Richtung.

Arian - Figure 1
Foto WESER-KURIER

Tag 4 der Suche. Hunderte sind auch am Donnerstag wieder unterwegs. Polizei, Feuerwehr und neuerdings auch Soldaten, ein ganzer Trupp mit 250 Leuten. Wo ist der Junge? Wo kann er nur sein?

Die Einsatzzentrale der Rettungskräfte ist dort, wo der Junge mit seiner Familie lebt. Sie hat ganz in der Nähe erst vor Kurzem ein Haus gebaut. Der Ort heißt Elm und gehört zur Stadt Bremervörde. Ein Flecken mit rund 1500 Einwohnern. Vor der Elmer Feuerwache und dem Bürgerhaus daneben stauen sich die Einsatzfahrzeuge. Hier laufen die Fäden zusammen. Hier wird ganz früh an jedem Morgen bestimmt, welche Gebiete als nächstes dran sind und wie weit die Suche ausgedehnt werden soll, mittlerweile sind es mehr als zehn Kilometer Richtung Norden und den Fluss Oste entlang. Einer der Trupps hat dort frische Fußspuren gefunden. Die von Arian? Kann sein.

Bei Elm fließen die Oste und die Elmer Beeke. Polizeitaucher untersuchen alle Gewässer in der Nähe.

Foto: Daniel Bockwoldt

Heiner van der Warp, Pressesprecher der Polizei in Rotenburg, die den Einsatz anführt, bleibt vorsichtig: „Ob das eine heiße Spur ist, muss sich noch zeigen“, sagt er. Die Fußabdrücke seien am Abend zuvor entdeckt worden. Warp erwähnt die Luftballons, die an verschiedenen Stellen im Wald aufgehängt wurden, von dem Feuerwerk, das sie entzündet haben. Arian liebt Luftballons und Feuerwerk, er könnte sich davon angezogen fühlen. Lauter Details, die der Polizeisprecher vor laufender Kamera ausbreitet. Das Medieninteresse ist enorm. Nicht nur, dass ein Junge verschwunden ist. Es ist ein besonderer Junge. Das macht den Fall so einzigartig.

Arian - Figure 2
Foto WESER-KURIER

Das mit den Stimmen hat seine Bewandtnis. Arian ist Autist, er nimmt die Welt anders wahr als die meisten Menschen. Das macht die Suche so schwierig. Rufen Fremde nach ihm, bekommt er wahrscheinlich Angst. Sind es die Mutter oder der Bruder, seine Bezugspersonen, könnte ihn das aus seiner Starre befreien, in die er möglicherweise gefallen ist. Könnte, vielleicht, möglicherweise, wahrscheinlich – wissen kann man das alles nicht.

Arian liebt Süßes und Buntes, deshalb haben die Suchtrupps Luftballons und Süßigkeiten aufgehängt, in der Hoffnung, dass der Junge sich davon anlocken lässt.

Foto: Philipp Schulze

Die Anteilnahme der Bevölkerung ist überwältigend. „Fantastisch“, sagt Erich Gajdzik, „ich bin stolz darauf.“ Gajdzik, ein quirliger Mann Anfang 70, ist der Ortsbürgermeister, seit fast 30 Jahren schon. Er kennt seine Leute, nur die Familie von Arian noch nicht, weil sie gerade erst hergezogen ist.

Seine Leute – die waren sofort da, als klar war, dass Arian weggelaufen ist. „Vor der Feuerwache standen an dem Abend mehr als 150 Menschen und sind dann los“, erzählt der Bürgermeister. „Jeden Stein haben wir umgedreht, jeden Garten durchstöbert und danach im Wald weitergemacht.“ Nichts. Nichts gefunden. Keinen Hinweis, wo der Junge geblieben sein könnte.

Arian - Figure 3
Foto WESER-KURIER

Hat noch Hoffnung: Ortsbürgermeister Erich Gajdzik.

Foto: Jürgen Hinrichs

Arian trägt nicht mehr als einen Pullover und eine Jogginghose. Noch nicht einmal Schuhe hat er an und läuft auf Socken. Das bislang letzte Lebenszeichen von ihm ist die Aufnahme einer privaten Überwachungskamera. Sie zeigt den Jungen mit einem Stock in der Hand, wie er auf den Wald zumarschiert. Mit der Kleidung und bei dem Wetter - auch an diesem Tag ist es in Elm wieder sehr kalt, dazu Wind und Nieselregen. Was für Chancen hat Arian noch?

In der Ferne streift ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera die Gegend ab. Die Polizei setzt Drohnen ein, Sonarboote und Taucher, um den Fluss, die Oste, abzusuchen. Keine Pause, auch in der Nacht nicht. Natürlich nicht. Gajdzik berichtet, dass er von den Menschen in Elm und aus den Nachbardörfern immer wieder gefragt wird, ob sie helfen können. Einsatzkräfte gibt es aber genug, das ist nicht das Problem. Stattdessen lassen sich die Elmer jetzt für den Küchendienst einteilen und sorgen dafür, dass die professionellen Helfer ordentlich versorgt werden.

Arian - Figure 4
Foto WESER-KURIER

Immer wieder stoßen die Suchtrupps auf Gegenstände. Ob sie mit dem Fall zu tun haben, ist offen.

Foto: Philipp Schulze

Der Polizeisprecher hatte gesagt, dass man in diesem Fall mit gar nichts rechnen könne. Herkömmliche Verhaltensmuster gebe es bei Arian nicht. Wie also einschätzen, was ihn treibt, in welcher Verfassung er ist, was er als nächstes tut? Wer sich mit Autismus nicht auskennt, steht erst einmal hilflos davor. Die Behörden haben deshalb eine Beraterin hinzugezogen.

Jutta Berthold ist Ergotherapeutin und hat eine Spezialausbildung absolviert, um autistischen Menschen im Leben Halt zu geben. „Das ist eine Welt für sich“, sagt die 57-Jährige, „diese Menschen haben ein völlig anderes Verständnis, von allem und jedem.“ Durchaus denkbar, dass Arian in seiner Situation zum Beispiel keine Angst verspüre, dass er kein Gefahrenbewusstsein habe. Oft sei es auch so, dass Autisten nicht merken, dass es kalt ist, sie frieren nicht.

Wo bist du? Der vermisste Arian Arnold aus Bremervörde-Elm.

Foto: Polizeiinspektion Rotenburg (Wümme)

Arian - Figure 5
Foto WESER-KURIER

Berthold unterscheidet grob zwischen zwei Grundmustern. Autisten, die schreien und wegrennen. Und solche, die in eine Starre verfallen: „Ich habe eine Frau erlebt, die verstummt ist, nichts mehr gesagt hat. Ein anderer Patient konnte plötzlich nichts mehr sehen.“ Ein weiterer Wesenszug sei, dass diese Menschen Enge mögen und Gewicht, damit sie zur Ruhe kommen. Arian könnte in ein Rohr gekrochen sein oder sich mit schwerem Material zugedeckt haben. So ein Verhalten wäre Fluch und Segen zugleich. Der Junge würde sich wenigstens ein bisschen vor Kälte und Nässe schützen. Er wäre damit aber noch schwerer zu entdecken.

„Ich habe noch Hoffnung“, sagt Berthold. Warum? „Weil er vermutlich nicht diese Ängste ausstehen muss, die wir kennen.“ Hoffnung hat der ganze Ort, ganz Elm. „Wir lassen den Mut nicht sinken“, sagt der Ortsbürgermeister. Und die Polizei? „Noch nicht einmal dran gedacht“, sagt Heiner van der Warp. Kein Gedanke ans Aufgeben. „Wir suchen weiter.“

Zur Startseite

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten