Pistorius und Lecornu einigen sich auf gemeinsamen Kampfpanzer

Pistorius

Boris Pistorius: Ja, es wird sehr konkret. Sébastien und ich haben uns von Tag eins meiner Amtszeit an sehr konkret und persönlich mit dem Projekt beschäftigt. Nach mehreren Monaten intensiver Verhandlungen und viel Kleinstarbeit auf der Arbeitsebene können wir jetzt ein Ergebnis vorweisen. Bei einem Abendessen in der Villa Borsig in Berlin haben wir den Knoten durchschlagen. Danach haben die Arbeitsgruppen ein Dokument erarbeitet, das wir am Freitag in Paris gemeinsam unterzeichnen. Anschließend folgt die Vertragsausgestaltung. Anfang nächsten Jahres soll, das ist ambitioniert, der detaillierte Vertrag fertig werden. Also ja, es wird konkret – endlich!

Sébastien Lecornu: Wir entwerfen bereits jetzt die neue Generation der Panzer für 2040. Die Amerikaner haben noch immer nicht damit begonnen, über die Zukunft des Abrams-Panzers nachzudenken. Die Russen haben beim Nachfolger ihres Panzers einige Misserfolge zu verzeichnen. Es geht nicht um ein neues Modell des Leopard oder des Leclerc. Wir entwickeln gepanzerte Objekte für ein Schlachtfeld völlig neuer Gestalt: nicht nur klassische Feuerkraft, sondern auch Feuerkraft der nächsten Generation, elektronische Kriegsführung und Künstliche Intelligenz sowie Laser- und Richtstrahlwaffen.

Deutschland baut mit dem Leopard 2A8 einen modernen Panzer. Welchen technischen Vorteil kann das deutsch-französische Panzerprojekt liefern, abgesehen von den politischen Absichten?

Lecornu: Es handelt sich um eine bahnbrechende militärische Heeresausrüstung. Wir entwickeln nicht einfach den Panzer der Zukunft, sondern die Zukunft des Panzers, die wir uns gemeinsam vorstellen wollen. Wir sind vom operativen Bedarf der Bundeswehr und des französischen Heeres ausgegangen, während unsere Vorgänger manchmal stärker vom Bedarf der Indus­trie ausgingen. Das ist eine riskante Wette. Aber es entspricht dem Feedback aus der Ukraine. Die Waffen, die wir der Ukraine geben, funktionieren nicht immer gut zusammen. Der zukünftige Panzer wird es auch ermöglichen, vollständig interoperabel zu sein. Damit werden Standards für die zukünftige Panzertruppe gesetzt.

Pistorius: Ich erinnere mich an unser Treffen in Giverny, in Sébastiens Heimatstadt, wo wir das Haus von Monet besucht haben. Bei diesem Treffen haben wir einen Per­spektivwechsel vollzogen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Schwerpunkt unserer MGCS-Verhandlungen auf den Unternehmen in unseren beiden Ländern gelegen. Das haben wir geändert. Der deutsche und französische Staat sollten von nun an als Auftraggeber auftreten, ihre Regierungen die Aufträge an die Rüstungsindustrie definieren und erteilen. An diesem neuen Prinzip haben wir von da an alles ausgerichtet. Vereinfacht ausgedrückt, geht es uns nicht darum, ob wir einen Leopard 3 oder einen Leclerc 2.0 entwickeln, sondern um etwas völlig Neues: Wir entwickeln gemeinsam ein System der Zukunft, das darauf ausgerichtet ist, was wir brauchen – von Künstlicher Intelligenz und modernster Sensorik bis zur Möglichkeit, das System in bestimmten Situationen unbemannt zu nutzen. Deswegen wird es auch einige Jahre dauern, bis das „Landkampfsystem der Zukunft“ MGCS entwickelt ist. Zwischen dem, was ist, und dem, was kommt, werden Welten liegen. Bis dahin werden wir natürlich die bestehenden Kampfpanzer jeweils modernisieren.

Wird es auch beim gemeinsamen Kampfflugzeug FCAS vorangehen?

Lecornu: Die Zeitpläne der beiden Projekte sind nicht identisch. An diesem Freitag unterzeichnen wir das Memorandum of Under­standing für die Phase 1A für den Panzer der Zukunft. Für das Flugzeug der Zukunft befinden wir uns bereits seit Anfang 2023 in der Phase 1B. Diese Phase läuft bis Ende 2025 und ermöglicht die Entwicklung eines Flugdemonstrators, mit Spanien als drittem Partner. Wir drei Verteidigungsminister wollen Ende 2024 mit den Industrieunternehmen den Entwicklungsstand des Flugzeugdemonstrators vorstellen. Dies wird ein wichtiger Meilenstein sein.

Pistorius: Auch der Start des gemeinsamen Projekts „Luftkampfsystem der Zukunft“ ist ein Kraftakt. Bei FCAS sind wir allerdings schon einen Schritt weiter. Von den Erfahrungen dort haben wir bei den Verhandlungen zum Panzerprojekt profitiert. Sie waren eine Blaupause bei der Verteilung der Aufgaben zwischen Deutschland und Frankreich – auch wenn ein Flugzeug natürlich etwas anderes ist als ein Panzer und die Aufgabenteilung nicht eins zu eins übertragen werden kann.

In der Ukraine zeigt sich jeden Tag, wie lebenswichtig eine funktionierende Flugabwehr wäre. Und Israel zeigte vorige Woche, was sie leisten kann. Nun gibt es die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) für einen gemeinsamen Schirm. Was hilft der Ukraine – und tritt Paris der deutschen Initiative doch noch bei?

Lecornu: Ich unterscheide das von der Unterstützung der Ukraine bei der Luftverteidigung, für die Frankreich und Deutschland im sogenannten Ramstein-Format eine Führungsrolle einnehmen. Wir leisten die gleiche Unterstützung wie unsere deutschen Freunde bei den Patriot-Raketen mit unserem französisch-italienischen System SAMP-T. Zusammen stellen wir die gesamte Boden-Luft-Verteidigungstechnologie auf allen Ebenen, um der Ukraine zu helfen. Unser Ziel ist es, alle Bestände, die in Europa verfügbar sind, für die Ukraine zu mobilisieren, denn es besteht dringender Handlungsbedarf. Ein anderes Thema ist der Schutz des europäischen Luftraums innerhalb der NATO, der nicht demselben Zeitplan unterworfen ist. Das wirft Fragen zur Organisation der Streitkräfte, zur Ausrüstung und sogar zur Doktrin auf. So kann man nicht über FCAS nachdenken, ohne die Frage nach der Verbindung zwischen Kampfflugzeugen und der Luftverteidigung durch Boden-Luft-Raketen zu stellen. Und vergessen wir nicht für uns Franzosen die Verbindung der konventionellen Verteidigung des Luftraums mit unserer nuklearen Abschreckung. Auf jeden Fall entwickelt Frankreich Programme zur Luftverteidigung der nächsten Generation, die für unsere Freunde in Europa von Interesse sein können, und wir müssen uns gemeinsam die Zeit nehmen, uns für die richtigen Investitionen zu entscheiden.

Frankreich bleibt also offen für die deutsche Sky-Shield-Initiative ...

Pistorius: Wir müssen bei der Luftverteidigung beides im Blick haben, einerseits die mittel- und langfristige Bedrohungslage für Europa und gleichzeitig den kurzfristigen Bedarf in der Ukraine, die die weiter zunehmenden russischen Luftangriffe abwehren muss.

Deutschland hat der Ukraine gerade ein drittes Patriot-System aus den Beständen der Bundeswehr zugesagt, um kurzfristig zu helfen. Gemeinsam mit Frankreich führen wir zudem die sogenannte Fähigkeitskoalition an, um die ukrainische Luftverteidigung mittel- bis langfristig aufzubauen.

Pistorius: Für die kurzfristige Unterstützung haben die Außenministerin und ich in der vergangenen Woche außerdem eine Initiative gestartet, mit ersten positiven Rückantworten. Unabhängig vom Verlauf des Ukrainekrieges gilt: Wir brauchen in Deutschland und Europa insgesamt mehr Luftverteidigungssysteme. Da sprechen wir von Patriot- und Iris-T-Systemen und aus deutscher Sicht auch vom israelisch-amerikanischen System Arrow 3. Denn derzeit haben wir Defizite in diesem Bereich, die wir schnellstens ausgleichen müssen. Wir brauchen hier Fähigkeiten für die kommenden Jahre – sowohl bei der Verteidigung in der Luft als auch bei der Flugabwehr und Luftverteidigung vom Boden aus. Derzeit haben sich 21 Nationen unserer Initiative ESSI angeschlossen, einschließlich der Schweiz und Österreich. Das begrüßen wir. Und wir bleiben für weitere Partner offen. Aber klar ist auch: Niemand muss mitmachen. Auch Frankreich ergreift Maßnahmen. Am Ende ist unser gemeinsames Ziel, dass es einen wirksamen Schutzschirm über Europa gibt. Und ob der aus einem oder zwei Elementen besteht, ist nicht die entscheidende Frage.

Viele Gemeinsamkeiten am Horizont. In Mali und Niger gehen beide Länder verschiedene Wege: Frankreich hat seine Truppen ganz abziehen müssen, Deutschland will vor allem in Niger bleiben. Ist das ein schönes Beispiel für komplementäre Bemühungen? Oder ein weiterer Grund für deutsch-französische Verstimmung?

Pistorius: Aus deutscher Sicht kann ich sagen: Das ist kein Anlass für Verstimmung. Deutschland und Frankreich haben in Niger unterschiedliche Aufgaben wahrgenommen und unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ja, unsere französischen Freunde haben sich entschieden, keine Soldaten mehr vor Ort zu haben. Wir haben zum Beispiel noch den Lufttransportstützpunkt in Niamey. Auch die Italiener sind weiter vor Ort. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass Europa in Niger präsent bleibt. Wir wollen in der Region aktiv bleiben, auch um das Feld nicht Russen oder anderen zu überlassen, die einer weiteren Destabilisierung Vorschub leisten. Von Berlin oder Paris aus ginge das nur in begrenztem Maße, daher ist Präsenz vor Ort für uns wichtig. Denn eines ist ganz klar: Ein weiter destabilisierter Sahel wird ganz konkrete Auswirkungen auf uns in Europa haben. Sei es in Form von Terrorismus oder irregulärer Migration.

Lecornu: Die Grundlage für die Präsenz unserer Streitkräfte war nicht mehr gegeben. In Mali kämpften wir an der Seite der malischen Streitkräfte gegen bewaffnete Terrorgruppen. In Niger das Gleiche. Wir waren nicht nur aus Ausbildungs- oder Kooperationsgründen präsent, sondern unsere Soldaten standen im direkten Kampfeinsatz gegen Terroristen. Darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Franzosen und Deutschen. Aber die Gründe für unsere Präsenz vor Ort waren nicht völlig die gleichen. Meine persönliche Beziehung zu Boris ermöglichte es uns, in jeder Phase eine offene Diskussion zu führen. Keiner von uns war von der Entscheidung des anderen überrascht. Von nun an werden wir auf ein neu gestaltetes französisches System in Afrika zusteuern, mit viel kleineren ständigen Garnisonen und neuen Partnerschaften, die auf Stärkung der afrikanischen Streitkräfte ausgerichtet sind.

Befürworten Sie die Stationierung von Atomwaffen auf polnischem Boden? Könnte dies den europäischen Pfeiler in der NATO stärken?

Lecornu: Wir sind die einzige Atommacht in der EU, aber unsere Besonderheit ist, dass wir nicht der Nuklearen Planungsgruppe der NATO angehören. Dieser Ausschuss legt die Doktrin für die Stationierung von Atomwaffen an den verschiedenen NATO-Stützpunkten fest. Wir tragen dazu nicht bei, da wir in unseren Planungen und in unserem Abschreckungssystem vollständig autonom sind. Eine Stationierung in Polen würde eine Diskussion unter den Verbündeten erfordern, da sie die NATO-Russland-Gründungsakte aushebeln würde – wobei Russland selbst mit der angekündigten Stationierung von Atomwaffen in Belarus dagegen verstößt.

Pistorius: Ich glaube, wir sollten nicht darüber spekulieren, wo jetzt noch Atomwaffen stationiert werden sollten. Es gibt den nuklearen Schirm der NATO in Europa, der hat sich als ausreichend und abschreckungsfähig erwiesen.

Im Europawahlkampf dürften die Verteidigung und gemeinsames Rüsten gegen eine russische Herausforderung eine große Rolle spielen. Es solle, so wird gefordert, einen EU-„Kommissar für Verteidigung und Rüstung“ geben. Was halten Sie von dieser Idee?

Pistorius: Sébastien und ich haben deutlich gemacht, was wir davon halten: Ein Kommissar, der für Verteidigung zuständig wäre, macht aus unserer Sicht wenig Sinn. Dieser hätte zunächst keine Kompetenzen. Und für eine Verlagerung von Rechten der souveränen Staaten auf die europäische Ebene sehen wir beide keine Notwendigkeit. Sinnvoll wäre ein Kommissar, der für die Verteidigungs- und Rüstungsindustrie der EU zuständig wäre und bei dem die Brüsseler Kompetenzen, die heute aufgesplittert sind, zusammengeführt würden.

Lecornu: Die Verträge sind eindeutig. Die Dok­trin für den Einsatz von Streitkräften ist selbstverständlich eine nationale Angelegenheit. Das gilt auch für die Exportkon­trolle, die ein Vorrecht der Staaten bleiben muss. Innerhalb der EU wurde der Verteidigungsindustrie jedoch nicht immer genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Es gab manchmal Versuche, mit der Taxonomie die Verteidigungsindustrie unter Druck zu setzen. Wir müssen an der Logik des gemeinsamen Marktes festhalten, der die Entwicklung der Verteidigungsindus­trie fördern muss. In jüngster Zeit wurden einige gute Initiativen ergriffen: Sie müssen fortgesetzt werden.

Die europäische Armee. Ein toter Traum oder immer noch ein Ziel?

Lecornu: Um ehrlich zu sein, müsste man zunächst definieren, was eine europäische Armee bedeutet. Wenn man Verteidigungsminister ist, geht es darum, den Bedrohungen ins Auge zu sehen. Wir sollten nicht bagatellisieren, was derzeit zum Beispiel im Roten Meer passiert! Dort findet eine außergewöhnliche europäische Militärmission statt, die unsere gemeinsamen Handelsinteressen sichert. In mancher Hinsicht wird heute mehr getan, als eine europäische Armee je leisten könnte, indem wir maßgeschneiderte Missionen begründen. Das ist konkret und eine klare Ergänzung zur NATO – durch die EU.

Pistorius: Ich bin etwas älter als Sébastien, deswegen kenne ich diesen Traum schon etwas länger. Ich glaube, die Herausforderungen, die eine europäische Armee mit sich bringen würde, sind viel größer als der Effekt. Wir reden heute über NATO- und EU-Mitgliedstaaten – vom Nordkap bis zur Spitze von Gibraltar, Zypern und Kreta. Da mit einer gemeinsamen Armee operieren zu wollen, halte ich derzeit für kaum vorstellbar. Eine starke europäische Säule der NATO mit eigenen Kräften, das macht Sinn, mit vielfältigen Kooperationen in den Einsatzszenarien, aber ohne Doppelstrukturen und Konkurrenzsituationen zur NATO. Wir sollten uns an dieser Stelle nicht überheben.

Tut Deutschland zu viel an der NATO-Ostflanke, insbesondere mit dem Brigade-Projekt in Litauen? Oder warum hält Frankreich sich dort zurück?

Pistorius: Deutschland war bis zum Ende des Kalten Krieges die Ostflanke der NATO, und wir konnten uns auf unsere Alliierten verlassen, die in Deutschland stationiert waren und schnell in der Lage gewesen wären, nachzurücken. Sie standen bereit, für unsere Freiheit und unsere Sicherheit als Alliierte einzutreten, wenn es zum Ernstfall gekommen wäre. Heute sind zum Beispiel das Baltikum, Polen oder die Slowakei die Ostflanke. Und nun haben eben auch wir die Verantwortung, die unsere Partner damals hatten. Wir sind also jetzt gefordert. Was wir an der Ostflanke tun, dient auch unserer eigenen Sicherheit. Mit unserer Präsenz stärken wir die Abschreckung, stärken wir den Zusammenhalt der NATO-Partner gegenüber Putin und anderen Aggressoren. Ja, es ist ein großes Projekt. Wir reden nicht umsonst von der Zeitenwende.

Müsste Frankreich also nachziehen?

Lecornu: Lassen Sie sich nicht täuschen, unsere Haltung ist die gleiche. Frankreich ist Rahmennation in Rumänien und führt Luftverteidigungsmissionen in den drei baltischen Staaten und in Polen durch, wo unsere Rafales und Mirages regelmäßig auf Patrouille sind. Es gibt nur einen kleinen Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Ansatz. Wir haben Kräfte in Reserve, die wir sehr, sehr schnell entsenden können. In Rumänien zum Beispiel haben wir die Fähigkeit, eine bis zwei Brigaden relativ schnell zu entsenden. Das Thema ist, Truppen nicht zu lange unbeweglich zu stationieren, sondern im Gegenteil immer Reserven zu haben, die es ermöglichen, sehr schnell zu entsenden und die Truppen für ihr Training rotieren zu lassen. Es gibt keinen politischen Unterschied zwischen Berlin und Paris bei der Rückversicherung der Ostflanke. Nur unsere Organisationsmodelle unterscheiden sich. Aber sollte es einen russischen Aggressionsversuch geben, garantieren wird das gleiche Maß an Reaktion.

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