Boris Pistorius: Ein unnötiger Weckruf mit Kriegsrhetorik

30 Okt 2023

Verteidigungsminister Boris Pistorius möchte die Deutschen wieder „wehrhaft“ und „kriegstüchtig“ sehen. Bei allem militärischen Nachholbedarf der Bundeswehr: Eine Verunsicherung der Bürger führt nicht zu mehr Sicherheit. Was soll das? Ein Kommentar.

Pistorius - Figure 1
Foto WirtschaftsWoche

Wenn man davon ausgeht, dass Spitzenpolitiker in Fernsehinterviews ihre Worte sorgfältig wägen, dann muss Boris Pistorius einen schon erstaunen. Eineinhalb Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine und drei Wochen nach den Terrorakten der Hamas in Israel stimmt uns der Verteidigungsminister plötzlich auf „die Gefahr eines Krieges in Europa“ ein.

Diese Erkenntnis ist weder neu noch in ihrer drastischen Ausformulierung erforderlich. Man fragt sich, was das soll?

Dass wir seit vielen Monaten in einer „Zeitenwende“ leben, ist offensichtlich: Regelmäßige Terrorakte, tägliche Kriegsbilder, Millionen Flüchtlinge, fehlendes Gas und steigende Energiepreise mit allen ökonomischen Konsequenzen gehören seit langem zu unserem Alltag und sind dort höchst präsent.

Warum glaubt der Verteidigungsminister, er müsse die angeblich vor sich hindämmernden Bundesbürger aus ihrem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf reißen?

Vielleicht sollte er sich lieber an seine Partei wenden. Wer wie Pistorius den Fall der Mauer und die dann drei Jahrzehnte währende Zeit der dauerhaften Friedenshoffnung nur als eine Periode bewertet, in der „alles runtergewirtschaftet und verbockt“ worden ist, greift nicht nur zu kurz, sondern schlicht daneben. Es waren doch vor allem SPD und Grüne, die nach dem Ende der Blockkonfrontation 1990 vehement eine „Friedensdividende“ forderten, zu der selbstredend die drastische Reduzierung der Bundeswehrausgaben gehörte. Und ja, die CDU- und SPD-Verteidigungsminister dieser Periode haben sich dem ebenso angeschlossen wie die Kanzler Kohl und Merkel.

Und selbst, als nach der russischen Besetzung der Krim 2014 die Zeiten wieder rauer wurden, findet man in dieser Phase keinen grünen oder sozialdemokratischen Politiker, der die konsequente Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato und eine massive Aufrüstung der Bundeswehr gefordert hätte.

Natürlich sind wir in unserer Friedenssehnsucht einem kollektiven Irrtum aufgesessen, der jetzt mit großer politischer und finanzieller Anstrengung korrigiert wird. Dass wir mehr Sicherheit, eine konsequente Ernstfallplanung und leider auch mehr Geld für das Militär brauchen, ist inzwischen Allgemeingut.

Aber muss man als verantwortlicher Politiker in dieser Zeit voller Schrecken die Bevölkerung im Fernsehen dazu aufrufen, wehrhafter und kriegstüchtiger zu werden? Kriegsrhetorik hilft keinem. Eine Verunsicherung der Menschen führt nicht zu mehr, sondern im Zweifel eher noch zu weniger Sicherheit. Pistorius sollte sich lieber mit Verve um die Ertüchtigung und Aufrüstung der Bundeswehr kümmern, aber rhetorisch besser abrüsten.

Lesen Sie auch: Im eigenen Ministerium wachsen die Zweifel an Pistorius

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