Stuttgarter DFB-Entdeckung Mittelstädt ist Hoffnungsträger für die EM

Frankfurt/Main · Maximilian Mittelstädt ist einer der Gewinner des DFB-Teams durch mutige Auftritte gegen Spitzenteams. Bundestrainer Julian Nagelsmann sieht sich bestätigt in seinen Vorstellungen über die Ausrichtung für die Fußball-EM.

Völlig losgelöst: Maximilian Mittelstädt nach seinem DFB-Debüttor gegen die Niederlande.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Wer schon einmal im Halbdunkel den richtigen Parkplatz gesucht hat an der von viel Wald umgebenen Arena in Frankfurt am Main, dem früheren, ja, Waldstadion, der erkennt schnell die labyrinthischen Tücken dieses Unterfangens. Beim Verpassen der Einfahrt von P9 wird einem rasch bewusst, dass damit beinahe zwangsläufig der Rückversand über die A3 Richtung Bonn einhergeht. Nahe dieses Straßen- und Autobahngewirrs im Stadtteil Sachsenhausen hat Julian Nagelsmann am Dienstagabend nun endgültig den etwas verworrenen Eindruck seiner Mannschaft aufgelöst. Völlig (los)gelöst war auch die Stimmung beim Bundestrainer, der in den zehn Tagen der Zusammenkunft mit den Nationalspielern immer wieder einen erhöhten Spaßfaktor eingefordert und erhalten hatte.

Die Tage hätten „von A bis Z sehr viel Spaß gemacht“, befand der 36-Jährige über das sportliche Kolloquium, die Gruppe habe ein „sehr gutes Verhältnis zueinander“. Wer wollte, konnte das in der hessischen Metropole schon vor dem Anpfiff auf dem Videowürfel beobachten. Da trällerte Thomas Müller, der alte Fahrensmann, wohlgelaunt und voller Inbrunst den neuen Tor-Jingle des DFB, „Major Tom“. Und nach dem überzeugenden 2:1 gegen die Niederlande setzte er, der nur eingewechselt wurde, sein Grinsen auf von einem Ohr bis zum anderen, dass die Augen nur noch zwei Schlitze bildeten. Die deutsche Mannschaft hatte eine Partystimmung erzeugt auf den Rängen und bei ihr selbst. Eine, die sich der 2014er Weltmeister nicht zu entziehen vermochte. Textsicher sei er, „absolut“, das sei ja ein „super Lied zum Mitgrölen – selbst, wenn man keinen sitzen hat“. Und wenn, na dann „wäre es noch besser“.

„Völlig losgelöst“ neue Torhymne

Erstmals war die 1980er Hymne Peter Schillings bei einem Tor der deutschen Elf im Stadion gespielt worden. „Völlig losgelöst“ - die Fans schwebten mit, gerade als da jemand im zweiten Spiel seinen ersten Treffer für das DFB-Team erzielt hatte. Es war ein Kunstwerk aus Wucht und Präzision, das da vom linken Fuß Maximilian Mittelstädts in der elften Minute seinen Weg ins Tor fand. Ein solches Selbstverständnis war erstaunlich und dem Stuttgarter nicht zuzutrauen gewesen in seinem erst zweiten Länderspiel, denn keine sieben Minuten zuvor hatte er die frühe Führung der Gäste mit einem ungenauen Fehlpass eingeleitet. Es spricht für ihn, dass er dann den Mut fand, sich nicht ein zweites Mal eine Blöße zu geben, indem er den Ball in den Frankfurter Nachthimmel drischt. Und es deutet auf eine ausgereifte Einfühlungsgabe Nagelsmanns hin, der den früheren Hertha-Reservisten, in Stuttgart als Nachfolger des Flankengotts Borna Sosa anfangs recht kritisch beäugt, in den Stand eines Nationalspielers erhob – mit 27 Jahren.

Nach dem Frankreich-Länderspiel hatte er ihn in aller Frühe quasi einem Wesenstest unterzogen. Dabei ging es freilich nicht darum, ob er das Ei lieber hart oder weich isst oder den Kaffee schwarz trinkt. Für Nagelsmann war es von untergeordnetem Interesse, wie er das Spiel bestreite, weil „ich wusste, dass er es gut macht. Für mich ist eher die Reaktion danach interessant, wie dribbelt er am Sonntag beim Frühstück auf, wie gibt er sich am Montag“, beschrieb der Bundestrainer in seiner gewohnt eloquenten Art. Mittelstädt überstand offenbar die Prüfung im Frühstücksclub. Es müssen für den Neuling nicht nur aufreibende Tage im Kreis der Elite gewesen sein, sondern auch erstaunliche sieben Minuten zu Beginn gegen die Niederlande, die in Folge seines Fehlers durch Memphis Depay zur frühen Führung kamen.

Mittelstädt mit starker Reaktion nach Fehler

Ebenso erstaunlich war die Reaktion Mittelstädts in seinem zweiten Länderspiel. „Ja, klar“, sagte er trocken, er sei „nicht gut gestartet ins Spiel“. Punkt. Doch erkannte er eine Eigenschaft, „dass wir, oder auch ich persönlich, uns davon nicht haben verunsichern lassen“. Einen überlebensgroßen schwarzen Hoodie hatte er übergestreift und sich darin förmlich eingegraben. Dabei gab es für die DFB-Entdeckung, die gegen die Tempodribbler aus Holland (Depay) und Frankreich (Ousmane Dembélé) in der Defensive doch einige Probleme offenbarte, was gegen diese Gütesiegel-Spieler nicht verwundert, keinen Anlass zu Versteckspielen. „Herausragend. Das Beste ist: Er ist ein völlig normaler Typ, ein unfassbar lieber Kerl, immer sehr freundlich“, schwärmte sein Trainer in der elektrisierenden Nacht von Frankfurt. „Der macht hier einen Fehler, geht nach vorne und donnert das Ding aus 18 Metern in den Winkel“, führte er leicht verwundert fort, der Fehler passiere, „aber die Reaktion ist der allerwichtigste Marker, damit ist er top umgegangen“. Ein Mann mit Mumm.

Weniger verwunderlich empfand der Hymnen-Adressat seine Reaktion. Selbstvertrauen hatte er sich die vergangenen Monate beim VfB reichlich aufgeladen, um „so eine Situation abzuschütteln“, sagte er. „Vielleicht wäre es in der Vergangenheit noch anders gewesen.“ Der emotionale Wert seines ersten Treffers für die DFB-Elf ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, nicht für ihn selbst, nicht für die Mannschaft, die nach dem Siegtreffer durch Niclas Füllkrug nun auch eine Comeback-Story schreiben kann, für die Fans, die nach einer kurzen Phase der Besinnlichkeit den Euphorieschalter wieder umlegten in Frankfurt – klack, einfach so – und sich immer mehr hinter dem Lagerfeuer Nationalmannschaft versammeln.

Bislang Nichtnominierte müssen sich steigern

Das Tor dient nun zudem als Beleg für die Nagelsmann’sche These eines Momentums, die das Nominieren legitimiert. Während Mittelstädt und die übrigen aktuellen Kader-Berechtigten beste Chancen haben auf die Einberufung für die EM, müssen erprobte Fachkräfte wie Leon Goretzka ihr eigenes Momentum (sprich Auftrieb) erst noch vorweisen. „Vollgas“ fordert Nagelsmann von jenen ein, die nicht dabei waren, sie müssen „besser sein als diejenigen, die dabei sind. Wir werden auf jeden Fall nicht zehn oder fünf Spieler tauschen im Sommer. Vielleicht einen oder zwei, wenn sich niemand verletzt.“

Eine zentrale Rolle dürfte im Sommer auch Thomas Müller gewiss sein, gleich in welcher Funktion. Als loyaler und hilfsbereiter Anschieber aus der zweiten Reihe ist ihm auf jeden Fall zu vertrauen. Dass ihm bei Füllkrugs 2:1 im Jubelrausch nicht aufgefallen war, dass der bisherige Tor-Song „Kernkraft 400“ von Zombie Nation zum Einsatz kam, wird dies nicht ändern (es sei denn, das Momentum fehlt). Am Ende sei es egal, welche Musik beim Siegtor gespielt wird, sagte der Ur-Bayer und ergänzte mit erkennbar philosophischem Einschlag: „Da wird innerlich die Musik des Glücks gespielt.“