Zerstörter Staudamm in Ukraine: Menschen kämpfen gegen die ...

8 Jun 2023
Zerstörter Staudamm in Ukraine Menschen kämpfen gegen die Fluten - Pegel in Cherson steigen

07.06.2023, 17:58 Uhr

Cherson - Figure 1
Foto n-tv NACHRICHTEN

Nach dem Dammbruch im Süden der Ukraine strömt weiter Wasser aus dem Stausee. Zehntausende sind von den Fluten betroffen. Die Trankwasserversorgung ist in der gesamten Region eingeschränkt. Die UN sorgt sich um die Getreideversorgung der Welt. Derweil schlägt Erdogan eine gemeinsame Kommission vor.

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine wächst die Sorge um die in den Überschwemmungsgebieten lebenden Menschen. Nach russischen Angaben waren bis zu 40.000 Menschen in dem durch Russland besetzten Teil der Region Cherson betroffen. Die Ukraine hatte zuvor mitgeteilt, dass auf der durch ihre Truppen befreiten rechten Seite des Flusses Dnipro rund 17.000 Menschen ihre Häuser verlassen mussten.

In der besonders betroffenen Großstadt Cherson im von der ukrainischen Armee kontrollierten Gebiet stiegen die Pegel um fünf Meter. In den Flutgebieten wateten Bewohner durch überschwemmte Straßen mit Kindern auf ihren Schultern, Haustieren auf dem Arm und Plastiktüten mit ihren Habseligkeiten in der Hand. Retter versuchten, mit Schlauchbooten in die Gebiete vorzudringen, wo das Wasser bereits Kopfhöhe erreicht hatte.

Der Damm war in der Nacht auf Dienstag gebrochen, die dadurch freigesetzten Wassermassen überfluteten weite Landstriche im Süden des Landes. Kiew und der Westen bezichtigten russische Besatzungstruppen, den von ihnen kontrollierten Damm gesprengt zu haben. Ziel sei es, die erwartete ukrainische Gegenoffensive aufhalten zu wollen. Moskau hingegen machte Kiew für die Katastrophe verantwortlich. Die Ukraine betonte, die eigenen militärischen Pläne könnten trotzdem umgesetzt werden.

Minenfelder überschwemmt

Laut ukrainischen Behörden hat das Hochwasser Minen vom Ufer des Dnipro weggeschwemmt. Das führe zu erhöhter Lebensgefahr für die Zivilbevölkerung, sagte der Vize der Regionalverwaltung von Cherson, Jurij Sobolewskyj, der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform. Andere Regionen des Landes hätten bereits Sprengstoffexperten entsandt, um bei der Beseitigung der Minengefahr zu helfen.

Cherson - Figure 2
Foto n-tv NACHRICHTEN

Noch immer gebe es keine vollständige Übersicht über das Ausmaß der Zerstörung, sagte er weiter. Die Auswirkungen der Katastrophe auf die Umwelt seien jedoch "kolossal". Seinen Aussagen zufolge wird der Wasserspiegel im Kachowka-Stausee langfristig sinken, was das Ökosystem der gesamten Südukraine negativ beeinflussen würde. Schon jetzt stelle die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Trinkwasser ein zunehmendes Problem dar. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj haben Hunderttausende Menschen keinen normalen Zugang zu Trinkwasser mehr.

Der Bürgermeister der westukrainischen Großstadt Lwiw (Lemberg), Andrij Sadowyj, erwartet viele Flüchtlinge aus den überfluteten Gebieten. "Die ersten Busse sind schon losgefahren. Wir haben momentan 3000 neue Schlafplätze für Flüchtlinge geschaffen", sagte er dem polnischen Radiosender Rmf.fm.

Tausende Hektar Ackerland betroffen

Laut staatlicher russischer Nachrichtenagentur Tass wurde in den betroffenen Gebieten unter russischer Kontrolle der Notstand ausgerufen. "Nach vorläufigen Prognosen sind es zwischen 22.000 und 40.000", sagte der von Moskau in Cherson eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Saldo im russischen Staatsfernsehen mit Blick auf die Zahl der betroffenen Einwohner.

Der Besatzungschef der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sagte zudem, dass dort rund 100 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen seien und gerettet werden müssten. Sieben Anwohner werden den Angaben zufolge derzeit vermisst, rund 900 sollen angeblich schon in Sicherheit gebracht worden sein. Von den Einsatzkräften verlautete, ein Friedhof und eine Tierkadaver-Sammelstelle seien überflutet worden.

Die Welternährungsorganisation (WFP) warnte vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit durch den Dammbruch. "Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist", sagte der Leiter des Berliner WFP-Büros Martin Frick. "Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel befinden sich nach wie vor auf einem 10-Jahres-Hoch." Die Zerstörung des Staudamms dürfe keine weiteren Preisexplosionen nach sich ziehen. "Noch mehr Leid können wir uns nicht leisten."

Cherson - Figure 3
Foto n-tv NACHRICHTEN

Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, hatte das Ministerium mitgeteilt.

Besatzungschef sieht militärischen Vorteil

Unterdessen erklärte der russische Besatzungschef im südukrainischen Gebiet Cherson, Wladimir Saldo, dass die eigene Armee aus der Zerstörung einen militärischen Vorteil gezogen hat. "Aus militärischer Sicht hat sich die operativ-taktische Situation zugunsten der Streitkräfte der Russischen Föderation entwickelt", sagte er im russischen Staatsfernsehen. "Sie können nichts machen", so seine Sicht auf die ukrainischen Truppen, die eine Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete planen. "Für unsere Streitkräfte hingegen öffnet sich jetzt ein Fenster: Wir werden sehen, wer und wie versuchen wird, die Wasseroberfläche zu überqueren."

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schlägt derweil eine Untersuchungskommission vor. Dies habe er in separaten Telefonaten mit Kremlchef Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj angesprochen, teilte das Präsidialamt mit. Eine solche Kommission könne mit Experten der beiden Kriegsparteien sowie mit Vertretern der Türkei und der Vereinten Nationen besetzt sein und damit ein ähnliches Format haben wie das sogenannte Getreideabkommen, hieß es. Selenskyj twitterte, er habe mit Erdogan über die humanitären und ökologischen Folgen des "russischen Terrorakts" gesprochen und der Türkei eine Liste von dringend Benötigtem übergeben.

Putin wiederum beschuldigte in seinem Telefonat mit Erdogan erneut die ukrainische Führung, hinter der Staudammexplosion zu stecken. Dies sei ein Beispiel dafür, dass Kiew und die Hintermänner im Westen auf eine "weitere Eskalation der Kampfhandlungen setzen, Kriegsverbrechen begehen, offen terroristische Methoden anwenden und Sabotageakte auf russischem Gebiet organisieren", hieß es in einer Pressemitteilung des Kreml. Moskau hat das Gebiet Cherson im Herbst offiziell annektiert und bezeichnet die Region als russisches Gebiet.

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