Aus bei Australian Open: Zverev im Griff des Tentakelmanns

Das Netz konnte nichts dafür. Alexander Zverev hatte den Vorhandvolley ja ins Aus gespielt. Aber die Wut des Deutschen musste irgendwohin in diesem wichtigen Moment des fünften Satzes im Halbfinale bei den Australian Open. Also drosch Deutschlands bester Tennisspieler zweimal mit seinem Schläger auf die Netzkante ein und stand danach mit leerem Blick für einen kurzen Augenblick einfach nur da in der Rod Laver Arena, weil er wohl selbst nicht so genau wusste, wie ihm dieses Spiel entglitten war.

Zverev sah am Freitagabend australischer Zeit lange wie der sichere Sieger aus. Als die Partie nach Mitternacht zu Ende war, verließ er den Center Court als Verlierer. 7:5, 6:3, 6:7 (4:7), 6:7 (5:7), 3:6 stand am Ende aus Sicht des Deutschen auf der Anzeigetafel gegen den Russen Daniil Medwedew, der lange nicht ins Spiel fand, dann aber das schaffte, was ihm so oft gelingt: Er zwang Zverev mit seiner unkonventionellen Spielweise in lange Ballwechsel, aus denen er mit laufender Spieldauer immer häufiger als Sieger hervorging, bis der Deutsche immer mehr Fehler machte: 21 ohne Not waren es in Satz fünf, bei Medwedew nur sieben. „Am Ende des zweiten Satzes habe ich mich nicht mehr so frisch gefühlt, Ich bin ein bisschen krank geworden nach dem Alcaraz-Spiel und habe ein bisschen Fieber bekommen“, sagte Zverev.

Medwedew gibt niemals auf

Am Anfang war davon kaum etwas zu sehen. Medwedew stand wie in vielen Partien dieses Turniers meist weit hinter der Grundlinie beim Return, mindestens vier, manchmal auch fünf Meter. Zverev nutzte das aus, indem er etwas langsamer, dafür aber platzierter servierte. Auch sonst schien der Deutsche bestens vorbereitet. Zverev wartete geduldig auf seine Chancen, setzte dann immer wieder zum Angriff an und ging ans Netz. 75-mal tauchte der Deutsche insgesamt vorne auf, 55-mal machte er den Punkt.

Doch Medwedew ist als Spieler bekannt, der nie aufgibt. Der US-Open-Sieger von 2021 verlegte seine Returnposition im Laufe des Spiels weiter nach vorn und kam dann im dritten Satz selbst besser ins Spiel. „Ich war ein bisschen verloren nach dem zweiten Satz und auch müde. Deshalb musste ich ein bisschen aggressiver spielen“, sagte Medwedew. Zverev schaffte es im Anschluss nicht mehr, so nah an die Linien zu spielen wie zuvor.

Und sein Gegner schien deshalb plötzlich überall zu sein: links, rechts, vorne und hinten – egal, welchen Teil des Platzes Zverev auch bespielte, Medwedew war da. Das kann zermürbend sein. Auf der Tour bezeichnen sie den Russen schon mal als Oktopus, weil es manchmal so wirkt, als habe er acht Arme, mit denen er selbst an die Bälle kommt, die sonst keiner erreicht. Medwedew gewann erst den Tiebreak in Satz drei, weil er aktiver war und Zverev beim Stand von 4:5 eine einfache Vorhand ins Netz schlug.

Im Tiebreak in Satz vier schlug er beim Stand von 5:5 ungewollt einen Stoppball mit dem Return, der unerreichbar war für Zverev. Spätestens da schien der Tentakelmann seinen Gegner immer fester im Griff zu haben. „Ich habe wirklich gut gespielt seit ein paar Monaten. Es ist frustrierend, dass ich nicht hundert Prozent fit war, aber es wird hoffentlich nicht meine letzte Chance gewesen sein“, sagte Zverev.

Auch Djokovic scheitert

Medwedew trifft nun im Finale auf Jannik Sinner, der Novak Djokovic 6:1, 6:2, 6:7 (6:8), 6:3 besiegte. Es war lange ein rätselhafter Auftritt des Serben, der in den ersten beiden Sätzen alles andere als gut spielte. Aber auch eine Demons­tration der Stärke von Sinner, der sich von nichts beirren ließ.

Selbst nachdem Djokovic den dritten Satz gewonnen und Sinner schon einen Matchball vergeben hatte, war von Nervosität beim Italiener nichts zu spüren. Im direkten Vergleich führt Medwedew 6:3 gegen Sinner. Doch die vergangenen drei Partien hat alle der Italiener für sich entschieden. Sinner hat sich, seit er bei den US Open im vergangenen Jahr gegen Zverev verlor, enorm weiterentwickelt, zeigt kaum Schwächen.

Und was bleibt für Zverev von diesem Turnier? In jedem Fall die Erkenntnis, dass er nach seiner schweren Verletzung bei den French Open 2022 wieder auf Augenhöhe mit den besten Spielern der Welt agiert. Das hat der Sieg gegen Carlos Alcaraz, aber auch das Spiel gegen Medwedew gezeigt. Schwächen zeigte Zverev vor allem in der ersten Woche, wo er viele Kräfte gegen nominell schwächere Gegner ließ. Trotzdem kam er weiter.

Ärger um Strafbefehl

Das macht Hoffnung für den nächsten Höhepunkt des Jahres, bei dem Zverev wohl auch ein anderes Thema noch stärker beschäftigen wird. Auch internationale Medien berichteten aus Melbourne ausführlich über seine bevorstehende Gerichtsverhandlung und den Strafbefehl, den das Amtsgericht Tiergarten im Oktober 2023 verhängt hatte.

Zverev soll eine Geldstrafe von 450.000 Euro (90 Tagessätze zu je 5000 Euro) wegen Körperverletzung zahlen, weil er eine frühere Partnerin im Streit angegangen sein soll. Die Vorwürfe weist er zurück. Gegen den Strafbefehl geht er juristisch vor.

Größeres Thema war die Causa trotzdem mehrere Tage lang. Zahlreiche Spielerinnen und Spieler wurden gefragt, ob es angemessen sei, dass Zverev von seinen Kollegen in den Spielerrat der ATP gewählt wurde. Die meisten wollten nicht darüber reden und wichen aus.

Doch vereinzelt gab es auch Kritik. „Es ist sicher nicht gut, wenn ein Spieler, der mit solchen Vorwürfen konfrontiert ist, sozusagen befördert wird“, sagte die Weltranglistenerste Iga Swiatek. Der Termin für die Verhandlung ist im Mai, wenn die French Open laufen. Zverev muss nicht persönlich erscheinen, kann sich aber sicher sein: Es wird in Paris nicht nur darum gehen, wie er Tennis spielt.

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