Jetzt entbrennt der Streit um die Krankenkassen-Millionen für die ...

29 Jan 2024
Türkei

Eine Recherche von FOCUS online zu den Millionen-Zahlungen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung in die Türkei hat heftige Debatten um die Transfers ausgelöst. Auch die Bundespolitik diskutiert, ob das Abkommen von 1964 gekippt werden sollte.

Ein Bericht zu den jährlichen Millionen-Überweisungen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in die Türkei und andere Länder hat hitzige Debatten um die Sinnhaftigkeit der Transfers ausgelöst.

FOCUS online hatte vergangene Woche aufgedeckt, dass die GKV in den Jahren 2020 bis 2023 insgesamt knapp 90 Millionen Euro ins Ausland überwiesen hat. Empfänger waren Menschen in Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien, Mazedonien und in der Türkei. Dorthin floss mit Abstand das meiste Geld.

Grundlagen der Zahlungen sind zum Teil sehr alte Vereinbarungen mit diesen Staaten. So wurde das deutsch-türkische Abkommen über Soziale Sicherheit, das auch die Krankenversicherung umfasst, bereits im April 1964 geschlossen, also vor fast 60 Jahren.

Debatte um Millionen-Zahlungen der GKV ins Ausland

Inhaltlich gilt die Grundregel, dass in Deutschland krankenversicherte Ausländer ihre in der Heimat gebliebenen Angehörigen kostenlos mitversichern können.

Ein praktisches Beispiel: Werden in der Türkei lebende Familienangehörige eines in Deutschland krankenversicherten Arbeitnehmers krank, bekommen sie die Behandlungskosten von der deutschen Krankenversicherung erstattet. Die Zahlung erfolgt über einen Monatspauschalbetrag von aktuell 21,06 Euro pro Familie.

Auch wenn die finanzielle Belastung der GKV durch diese Praxis minimal ist – die Auslandsüberweisungen machen im Durchschnitt nur 0,0066 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben aus –, stoßen die Transferleistungen in Teilen der Bevölkerung nicht gerade auf Begeisterung.

Insbesondere aus rechten und rechtsradikalen Kreisen ist immer wieder zu hören, die Zahlungen seien „Wahnsinn“ und einer der Gründe, weshalb die Beiträge zur GKV ständig steigen würden. Wie FOCUS online bereits vorrechnete, ist diese Behauptung nicht haltbar.

Denn selbst wenn man das Abkommen mit der Türkei stoppen würde, läge die Entlastung eines gesetzlich Krankenversicherten, der den aktuellen Höchstbeitrag von 843,53 Euro zahlt, gerade mal bei rund 5 Cent im Monat.

Bundesregierung will Abkommen von 1964 nicht antasten

Das von Hubertus Heil (SPD) geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales weist außerdem darauf hin, dass der GKV die Übereinkunft mit Ankara „keine Mehrbelastungen, sondern sogar erhebliche Einsparungen“ bringe.

Denn die Ausgaben der Krankenkassen wären „deutlich höher, würden die Familienangehörigen nicht in ihrem Heimatstaat leben, sondern von ihrem Recht Gebrauch machen, nach Deutschland nachzuziehen bzw. hier zu wohnen“, so das Ministerium gegenüber FOCUS online.

Die einfache Rechnung: 2022 kostete ein Versicherter die deutsche gesetzliche Krankenversicherung im Durchschnitt rund 310 Euro pro Monat. Eine ganze Familie in der Türkei hingegen nur 21,06 Euro.

Insofern verwundert es nicht, dass die Bundesregierung eine Kündigung des Abkommens mit Ankara „nicht beabsichtigt“.

Union spricht von einer „Phantomdebatte“

Auch die Union, derzeit größte Oppositionskraft im Bundestag, stellt die Fortführung der Millionen-Transfers derzeit nicht zur Disposition.

„Angesichts der Jahresausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von knapp 300 Milliarden Euro sollten Sparvorschläge in anderen Dimensionen diskutiert werden“, erklärte Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher CDU/CSU-Bundestagsfraktion, gegenüber FOCUS online.

„Selbst wenn das deutsch-türkische Abkommen aufgekündigt würde, wären die Einsparungen für die Versicherten verschwindend gering“, so CDU-Mann Sorge. „Wie auch bei der Homöopathie gilt: Phantomdebatten um homöopathisch kleine Einsparungen werden unser Gesundheitssystem auf Dauer nicht stabilisieren.“

Bei der AfD hingegen sieht man keinen Nutzen in der gängigen Praxis. „Die AfD ist dafür, nicht am Abkommen festzuhalten und es zu beenden“, so Martin Sichert, gesundheitspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion gegenüber FOCUS online.

Die Übereinkunft habe ursprünglich dazu gedient, türkische Arbeiter mit Hilfe attraktiver Sozialleistung nach Deutschland zu locken. „Dafür fehlt mittlerweile die Grundlage“, erklärte Sichert.

AfD: Kein Geld mehr für Sozialleistungen von Türken in Türkei

Der AfD-Politiker weiter: „Niemand versteht heute, warum Geld für Sozialleistungen von Türken in der Türkei bezahlt wird, während die Beitragszahler mit immer höheren Beiträgen zur Kasse gebeten werden.“

Damit stößt Sichert ins gleiche Horn wie 2017 der damalige Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen. Auch er hatte seinerzeit einen Zahlungsstopp in die Türkei gefordert. Und schon 2011 hatte die NPD eine Petition an den Bundestag gerichtet, um das Abkommen mit Ankara von 1964 zu kündigen – erfolglos.

Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge misst den umstrittenen Millionen-Überweisungen ins Ausland eine untergeordnete Bedeutung zu. Finanzielle Schwierigkeiten drohten der gesetzlichen Krankenversicherung aus anderen Gründen.

„Das viel größere Problem ist der Umstand, dass die Ampel in den vergangenen zwei Jahren keinerlei Vorschläge gemacht hat, um die GKV langfristig finanzstabil zu halten“, so Sorge zu FOCUS online. „Minister Lauterbach sitzt das Problem aus. Seine mit sieben Monaten Verspätung vorgelegten Sparideen sind in weiten Teilen substanzlos. Sie werden die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht festigen.“

CDU-Gesundheitsexperte Sorge: GKV muss sparen

Sorge: „Darum droht auch in Zukunft ein weiterer Anstieg der Krankenkassenbeiträge.“ Aus Sicht des Gesundheitsexperten könne man dies verhindern – „beispielsweise, wenn die GKV-Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen wie im Koalitionsvertrag angekündigt endlich aus Bundesmitteln getragen würden.“

Der CDU-Mann zu FOCUS online: „Dass stattdessen die Beitragszahler für die Ausgaben von Bürgergeld-Empfängern aufkommen müssen, ist ein 10 Milliarden Euro schwerer Fehler im System.“

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