Brief aus Istanbul: Die Türkei ist für die Mafia ein Paradies

Türkei

Jahrelang haben wir uns mit unserer jungen Bevölkerung gebrüstet. Wundern Sie sich nicht über die Vergangenheitsform, unsere Bevölkerung ist immer noch jung. Mit einer Quote von 15,2 Prozent junger Bevölkerung liegen wir vor allen EU-Staaten. Nur ist das für uns nicht länger etwas, dessen wir uns rühmen würden. Denn die als Zukunft eines Landes geltende Jugend stellt nicht länger eine Hoffnung für unser Land dar. Wir können sie weder mit Brot und Arbeit versorgen, noch mit einer Zukunft.

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13 Millionen junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren leben bei uns. Rund 2,5 Millionen von ihnen be­suchen keine Schule und arbeiten auch nicht. Und die anderen? Auch jene, die Schulen besuchen oder einen Ar­beitsplatz haben, bekommen wir nicht satt. Der jüngst veröffentlichten Jugendarmutsstudie zufolge leben 60 Prozent unterhalb der Armutsgrenze und sind gezwungen, mehrere Tage in der Woche Mahlzeiten auszulassen. Es sind auch die jungen Leute, die den größten Anteil der Antragsteller für Arbeitslosenunterstützung seit Jahresbeginn ausmachen. Das Heer der jungen Arbeitslosen wuchs um 240.000 junge Menschen an.

Eigentlich sind wir kein armes Land. Für den Schutz Erdoğans, der die Bürger seines Landes arm macht, stehen täglich rund 100.000 Euro zur Verfügung. Als Bürger dieses Landes aber können wir sogar unseren Grundbedarf nur per Kredit decken. Laut einer Ende September publizierten Studie reicht bei 93 Prozent der Bevölkerung das Einkommen nicht für die Ausgaben. Jeder Vierte verdient weniger als den Mindestlohn von um­gerechnet 290 Euro. Nur 34 Prozent sind in der Lage, ihren Grundbedarf ohne irgendwelche Unterstützung zu decken.

Niedergang einer Universität

Sind wir denn imstande, für die Menschen, denen wir ökonomisch keinen Wohlstand zu bieten haben, ein Klima der Fairness zu schaffen? Können wir ihnen Chancengleichheit und Freiheit bieten? Ein auf Leistung basierendes System und die Möglichkeit, in einem Rechtsstaat zu leben? Ich wünschte, ich könnte das bejahen. Doch in Sachen Bildungsungleichheit sind wir Spitzenreiter in der OECD. An der Spitze der Bildungspyramide gibt es für Arme leider keinen Platz. Natürlich gibt es bei uns eine gewisse Anzahl Schulen und Hochschulen für fähige junge Leute aus allen Schichten. Doch durch Interventionen des Erdoğan-Regimes büßen auch sie an Qualität und Ansehen ein.

An der Bosporus-Universität, der besten des Landes, setzte mit dem von Erdoğan ernannten neuen Rektor der Niedergang ein. Sie rangiert mittlerweile nicht mehr unter den 500 besten Universi­täten der Welt. Wie auch? Die juristische Fakultät leitet ein Physiker, den Fachbereich Kommunikation ein Industrieingenieur, der Leiter der Ab­teilung Psychologie ist Ingenieur der Chemie, der Dekan der Ingenieurwissenschaften ist Jurist. Das ist mal Multidisziplinarität!

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