The Day Before im Early Access - Unser Ersteindruck nach dem ...

8 Dez 2023
The Day Before

„Werden sie doch Bäcker“, schlug mir mein Mathelehrer in der 11. Klasse vor. „Das ist ein ehrbarer Beruf.“ Hätte ich mal auf ihn gehört! Stattdessen teste ich Videospiele und muss solchen Rotz wie The Day Before ertragen. Pausenlos erscheinen auf Steam minderwertige Spiele, die kaum funktionieren, keine spaßigen Inhalte bieten, viel zu überteuert sind und aussehen, als hätte sie jemand in ein paar Stunden in Unity oder Unreal Engine zusammengeklöppelt, um ein paar ahnungslosen Opfern die Kohle aus der Tasche zu ziehen. In den meisten Fällen verschwindet dieser Schund ganz schnell in der Versenkung, wo er hingehört. Etwas anders verhält es sich mit The Day Before, das es durch Schummel-Trailer und vollmundige Versprechungen auf etliche Steam-Wunschlisten geschafft hat.

Entwickler Fntastic versprach ein Open-World-Survival-MMO und präsentierte Trailer, in denen Spieler Zombiehorden und Schneestürmen trotzen, per Voice-Chat mit Freunden und Feinden kommunizieren, mit Fahrzeugen die Spielwelt erkunden und dort sogar mit unebenem Terrain und Matsch zu kämpfen haben wie in Spintires. Nichts davon befindet sich im Early-Access-Release für immerhin knapp 40 Euro. Die rund 40.000 Spieler, die sich vergangene Nacht auf den Titel stürzten, sind entsprechend sauer: Die Wertungen sind überwältigend negativ, das Forum steht in Flammen, der offizielle Discord-Kanal zum Spiel wurde vorübergehend geschlossen, weil die Atmosphäre laut Entwicklern „zu toxisch“ war. Währenddessen schätzt Fntastic, binnen sechs bis acht Monaten den Early Access zu verlassen und in die Vollversion überzugehen. Das halte ich angesichts des katastrophalen Zustands dieses Spiels für, gelinde gesagt, optimistisch.

Frustrierende Server-Suche

Ich spiele auf einem Ultrawide-Monitor, dessen Auflösung das Spiel aber nicht unterstützt. Ich kann wahlweise im hässlich gestreckten Vollbild oder im kleinen Fenster spielen. Nach der Charaktergenerierung muss ich meinen Server auswählen, unterteilt in die Regionen Nordamerika, Europa und Asien. Für jede Rubrik stehen Dutzende Server zur Auswahl, die aber allesamt als voll angezeigt werden. Volle Server kann man nicht betreten, es gibt keine Warteschlangen und keine Info zu maximalen Spielerzahlen je Server. Nach etwas Rumgeklicke werden mir ein paar asiatische Server mit hoher, aber nicht voller Bevölkerungsdichte angezeigt. Die erzeugen etliche Verbindungsfehler, doch irgendwann habe ich endlich Glück und kann verbinden. Zur englischen Sprachausgabe gibt es auf Wunsch deutsche Bildschirmtexte. Ein Arzt erklärt mir, er habe mich „am Rande des Todes“ gefunden, das Optionsmenü lässt mich unter „Kontrolle“ die Steuerung anpassen.

Ein Tutorial schickt mich kreuz und quer durch ein Lager für Überlebende einer Pandemie, die große Teile der Weltbevölkerung ausgerottet oder in Zombies verwandelt hat. Andere Spieler rennen um mich herum, einige rutschen ohne Animation auf ihren Knien durch die Gänge, ein Mitspieler wird vorübergehend so riesig wie ein Haus. Die Message ist klar: Das hier ist ein Hort des Friedens, du bist hier sicher, wir sind hier alle Familie und halten zusammen. Mein Job ist es, in die verwüstete Stadt zu marschieren und dort nach allerlei Krempel zu suchen, der den Bewohnern des Lagers beim Überleben hilft. Spieltechnisch bedeutet das, dass sämtliche Jobs derzeit irgendwelche Sammelaufgaben sind: Gehe raus, suche und sammle Zeug und bringe es zurück.

Das ist kein MMO

Die versprochene „Open World“ ist ein etwas größeres Stadtviertel, das entfernt an The Division erinnert, mit etwas Wald drum herum. Die allermeisten Häuser sind verrammelt und nicht begehbar. Viele Plakate und Schilder haben merkwürdiges Artwork wie von einer KI erstellt. Hier und da kann ich mal einen Laden betreten, die Zombiehorden aus den Trailern lassen sich dort aber ebenso wenig blicken wie interessante Beute. Die Welt ist enttäuschend leblos, Postapokalypse hin oder her. So lange ich meine Waffe nicht abfeure oder irgendwelche Alarmsirenen auslöse, glänzen die Zombies durch Abwesenheit. Mehr als drei Zombies gleichzeitig sehe ich zu keinem Zeitpunkt im Spiel.

Hüfthohe Mauern stellen ein unüberwindbares Hindernis dar. Das nervt schon deshalb, weil in Trailern und Gameplay-Videos wiederholt zu sehen war, wie Spielercharaktere mühelos über solche Objekte klettern und hüpfen. Ich bin 42 und übergewichtiger Spielejournalist mit Entenfüßen. Ich kann im richtigen Leben relativ mühelos über eine hüfthohe Mauer klettern. Mein Charakter in The Day Before kann das nicht. Angeblich funktioniert das erst, wenn man im Gym die Stärke seiner Figur hochlevelt. Ob das stimmt, kann ich nicht bestätigen, denn so lange habe ich es gar nicht im Spiel ausgehalten, schon weil die offene Welt bei mir auf 15 FPS vor sich hinruckelt. Vielleicht lag es am überlasteten Asia-Server. An den bescheidenen Systemanforderungen, die mein System um Welten übertrifft, liegt es jedenfalls nicht.

Loot ist dicker als Wasser

The Day Before hat aller Ankündigungen zum Trotz so gut wie keinerlei Survival-Elemente. Ja, es gibt die obligatorischen Balken für Hunger und Durst, sowie Getränke und Lebensmittel in der Spielwelt. Es gibt Heilkram für Verletzungen. Die Schneestürme aus dem Trailer fehlen aber, anscheinend gibt es überhaupt keine Witterungsverhältnisse im Spiel. Als ich eine Winterjacke erbeute, erklärt mir die Beschreibung zwar, wie prima dieses Kleidungsstück gegen Kälte schützt, doch im Spiel gibt es keinerlei Anzeichen von Wind, Wetter und Temperaturen. Im Hintergrund höre ich immer wieder mal Schussgeräusche und irgendwelche Sirenen, obwohl mir zu keinem Zeitpunkt andere Spieler begegnen, Zombies nahezu ausgestorben sind. Ich habe den Verdacht, dass diese Geräusche bloße Kulisse sind und nichts mit dem tatsächlichen Spielgeschehen zu tun haben.

Nach einer Weile Latscherei stoße ich auf einen Supermarkt, den ich für meine Sammelmission aufsuchen soll. Ich höre Schussgeräusche, diesmal nicht mehr einfach nur so im Hintergrund. Ein Spieler, der erste außerhalb des Lagers überhaupt, taucht auf Knien rutschend neben mir auf, gleitet ohne jede Animation durch die Gegend und beschießt mich mit einer Schrotflinte, die neben ihm her schwebt, dann bin ich tot. Das alles läuft vollkommen schweigsam ab, den Voice-Chat aus dem Trailer gibt es hier nicht. Ich erwache im Lager, ohne Rucksack, ohne Waffen, Munition, Lebensmittel, mit komplett leerem Inventar. Ach so. Anscheinend sind wir so lange eine Familie, ziehen alle am selben Strang, bis wir das Lager verlassen und gemeinsam nach Vorräten und Materialien suchen, um ebendieses Lager am Leben zu erhalten. Dann bringen wir uns alle gegenseitig um. Macht ja Sinn.

Sinnloser Baumodus

Außerhalb des Lagers und der Stadt könnt ihr auf einem instanzierten Grundstück ein Haus bauen und mit Möbeln dekorieren. Die sind größtenteils exorbitant teuer, einen tieferen Sinn hat dieses Feature noch nicht. Theoretisch könnt ihr an dieser Stelle auch ein Auto kaufen, nur kostet das billigste Fahrzeug einen siebenstelligen Betrag. Für eine erledigte Mission erhaltet ihr 1.000 Einheiten Spielwährung. Da müsst ihr für euren fahrbaren Untersatz schon verdammt lange ackern! Zwar stehen in der Stadt genug Autos rum, von denen funktioniert allerdings kein einziges. Ob die kaufbaren Fahrzeuge funktionstüchtig sind, kann ich nicht beurteilen, weil ich dafür nicht extra über tausend Missionen absolvieren möchte.

Ich stelle das Zelt, den Liegestuhl und den Schrank auf, die mir vom Tutorial kostenlos zur Verfügung gestellt werden und keine richtige Funktion erfüllen und gehe erneut in die Stadt, noch einmal zum Supermarkt beim Versuch, meine Sammelmission zu erledigen. Als ich dort ankomme, kniet dort immer noch mein Widersacher mit der schwebenden Schrotflinte und bläst mich direkt wieder weg. Okay, ist halt PvP, nur einfach nicht besonders spaßig. Hätte ich überlebt und alle benötigten Gegenstände gefunden, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit beim Extrahieren umgenietet worden. Dort campen Spieler und killen wahllos alles, was in ihre Nähe kommt. Das liegt in der Natur der Sache, schließlich ist das hier ein Extraction-Shooter, der als Open-World-Survival-MMO verkauft wird. Bleibt die Frage, ob man für ein Spiel in diesem Zustand 40 Öcken latzen will. Ein Zombie-Shooter ohne Zombiehorden, ein Open-World-MMO ohne Open World oder MMO, von einem Entwickler, der so viel mehr versprach und dessen Trailer plötzlich auf mysteriöse Weise vom offiziellen YouTube-Kanal verschwunden sind.

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