Stefanie Babst im Interview: "Für Putin sind wir sehr berechenbar"

8 Tage vor

Die ehemalige NATO-Strategin Stefanie Babst hält den Umgang von NATO und Europäischer Union mit Russland für hochgefährlich. Dem Kanzleramt und der SPD wirft sie vor, sie wolle sich eine Hintertür freihalten: "Scholz und seine Mitstreiter scheinen immer noch zu glauben, dass man Putins Russland irgendwann wieder integrieren muss - eine in meinen Augen vollkommen abwegige Vorstellung", sagt sie im Interview mit ntv.de.

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"Sollte Russland die Ukraine militärisch besiegen oder sich dauerhaft in den besetzten Gebieten festsetzen können, würde sich kein neuer Eiserner Vorhang über Europa senken, sondern ein löchriges Tarnnetz, durch das Putin weiter durchstoßen würde. Unsere Glaubwürdigkeit als westliche Staatengemeinschaft wäre dahin."

Dr. Stefanie Babst war 22 Jahre auf der strategisch-operativen Leitungsebene der NATO tätig. Von 2006 bis 2012 war sie stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin der Public Diplomacy Division. Danach leitete sie das strategische Vorausschauteam für den NATO-Generalsekretär und Vorsitzenden des Militärausschusses. 2023 erschien ihr Buch "Sehenden Auges: Mut zum strategischen Kurswechsel", das mittlerweile auch auf Ukrainisch, Estnisch und Englisch erschienen ist.

(Foto: Privat)

ntv.de: Israel hat den iranischen Angriff nicht allein abgewehrt, es hatte Hilfe von den USA, von Frankreich, Großbritannien und von Jordanien, auch Deutschland hat sich beteiligt, indem in der Luft "drei Betankungsvorgänge an zwei französischen Flugzeugen" durchgeführt wurden, wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte. Wäre so etwas rein völkerrechtlich auch in der Ukraine möglich?

Stefanie Babst: Nach Kapitel 7, Artikel 51 der UN-Charta hat jeder Staat das Recht, sich im Falle eines bewaffneten Angriffs zu verteidigen. Andere Staaten dürfen das angegriffene Land dabei unterstützen. Genau das haben die Israelis und einige ihrer Verbündeten getan. Die Ukrainer führen ihren Selbstverteidigungskampf gegen Russland auf der gleichen völkerrechtlichen Grundlage. Aber die NATO hat schon zu Beginn des Angriffskrieges die ukrainische Bitte abgelehnt, eine "No Fly"-Zone einzurichten, um ihre Städte gegen den russischen Raketen-, Drohnen- und Bombenhagel zu schützen und ihre Luftwaffe dabei zu unterstützen, den ukrainischen Luftraum zu verteidigen.

Mit welcher Begründung?

Das zentrale Argument war und ist, dass das Bündnis damit eine direkte militärische Auseinandersetzung mit Russland riskieren würde. US-Präsident Biden legte die strategischen Parameter dafür bereits vor dem 24. Februar 2022 fest, indem er sagte, dass sein Land auf keinen Fall Kriegspartei werden wolle und es keine "U.S. boots" in der Ukraine geben würde. Dem haben sich die europäischen Verbündeten angeschlossen. An dieser grundsätzlichen Linie halten die NATO-Mitglieder bis heute fest. Die Folgen sind für alle Beteiligten gravierend: Die Ukrainer müssen sich alleine verteidigen und bei den Verbündeten permanent um militärische Unterstützung betteln; und die NATO ist in ein strategisches Dilemma geraten: Sie hat keinerlei Abschreckungswirkung jenseits ihres Zaunes auf ein hochaggressives und revanchistisches Russland; und sie kann die militärische Dynamik in der Ukraine und damit den Ausgang des Krieges nicht direkt beeinflussen.

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Und was ist mit russischen Raketen, die auf NATO-Territorium landen?

Einige solcher Zwischenfälle gab es bereits und fast jedes Mal hat Moskau behauptet, es handelte sich dabei um einen "unbeabsichtigten Fehler". Zu manchen Zwischenfällen hat sich der Kreml überhaupt nicht geäußert.

Generell gilt, wenn eine Drohne oder Rakete den Luftraum eines NATO-Staates verletzt, dann muss in erster Linie das betroffene Land festlegen, ob es dies als einmaligen Zwischenfall oder einen vorsätzlichen militärischen Angriff bewertet. Im letzten Fall hätte das Land das Recht, ein bedrohliches Objekt in seinem Luftraum abzuschließen. Aber bislang haben sich die NATO-Mitglieder sehr zurückgehalten, was wiederum an ihrer Angst vor einer möglichen Reaktion Moskaus liegt. Bleibt es auf der NATO-Seite aber immer nur bei kurzen verbalen Empörungen, muss sich das Bündnis die kritische Frage gefallen lassen, ob seine militärische Abschreckung noch funktioniert. Denn ganz offensichtlich zeigt sich Russland unbeeindruckt und macht mit seinen Luftangriffen einfach weiter.

Wir beeindrucken Moskau also nicht?

Warum sollte sich Putin von uns beeindrucken lassen? Er rückt ja keinen Millimeter von seinem Ziel ab. Wenn wir ihn und seine Mafiaclique wirklich beeindrucken wollten, würden wir alles daransetzen, die strategische Dynamik zu unseren Gunsten zu drehen und die Lage in der Ukraine wäre eine andere: Wir würden sie mit aller Entschlossenheit darin unterstützen, die besetzten Gebiete zu befreien und den russischen Aggressor hinter die ukrainische Grenze zurückzuschlagen. Aber all das tun wir nicht. Weder die NATO noch die EU haben eine langfristige und wirkungsorientierte Eindämmungsstrategie gegen Russland. Etliche unserer Unternehmen unterlaufen ungestraft die Wirtschaftssanktionen und nicht wenige unserer Verbündeten kaufen in großen Mengen weiterhin russisches Öl. Wir kriegen es auch nicht auf die Reihe, der Ukraine zügig die militärische Unterstützung zu geben, die es zu ihrem staatlichen Überleben braucht. Wir können - oder besser wollen - Moskaus Freunde im Iran, in Nordkorea und China nicht davon abhalten, die russische Kriegsmaschine massiv zu füttern und am schlimmsten ist, dass wir fast ausnahmslos darüber reden, was wir nicht machen wollen: Die NATO will nicht Kriegspartei werden, sie ist zu ängstlich, um mit der Ukraine Beitrittsgespräche zu beginnen, und sie kann nicht sagen, wie sie Sicherheit jenseits des NATO-Territoriums in Europa wieder herstellen will. Für Putin sind wir sehr berechenbar.

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Gilt das auch für Bundeskanzler Scholz?

Auf jeden Fall. Scholz setzt ausnahmslos auf eine Politik der Nichtprovokation Russlands. Im ersten Kriegsjahr haben wir von ihm sogar Äußerungen gehört, dass man Russland einbinden und Vorbereitungen treffen müsse für die Zeit nach dem Krieg. Wenn man Jens Plötner, dem sicherheitspolitischen Berater des Kanzlers, oder Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt zuhört, dann stellen sie das Vorgehen des Kanzlers als besonders besonnen dar. Alles, was Moskau angeblich provozieren könnte, wird von ihnen als eskalationsfördernd abgelehnt. Denkt man diese Position konsequent weiter und bedenkt die jüngsten Äußerungen von SPD-Fraktionschef Ralf Mützenich oder des SPD-Abgeordneten Ralf Stegner, dann kann man nur zu dem logischen Schluss kommen, dass diese Regierung sich eine Hintertür freihalten will. Das erklärt auch, warum sie so schwammig in ihrer strategischen Zielsetzung bleibt und bestimmte Waffenlieferungen immer wieder verzögert.

Eine Hintertür?

"Russland wird auch nach Ende des Krieges das größte Land auf dem europäischen Kontinent sein", sagte Scholz im ersten Kriegsjahr vor dem Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft. Deshalb sei es "ganz zentral, dass wir für diese Zeit auch Vorbereitungen treffen". Davon ist gegenwärtig zwar nicht mehr die Rede, aber Scholz und seine Mitstreiter scheinen immer noch zu glauben, dass man Putins Russland irgendwann wieder integrieren muss - eine in meinen Augen vollkommen abwegige Vorstellung. Das heutige Russland ist ein terrorverbreitender Mafiastaat, der vor unseren Augen Kriegsverbrechen im großen Stil verübt und ganz offensichtlich denkt, seine Handlungen blieben ungestraft.

In der SPD wird argumentiert, Scholz' Linie habe dafür gesorgt, dass die Zustimmung zur Ukraine-Politik der Bundesregierung ziemlich hoch ist - und tatsächlich sagen in einer Forsa-Umfrage 42 Prozent der Befragten, dass sie den Umfang der deutschen Hilfe für die Ukraine angemessen finden. 26 Prozent halten den Umfang für zu gering und nur 27 Prozent für zu hoch.

Natürlich können wir dauernd auf Momentaufnahmen in unserer Gesellschaft schauen. Aber mit dem Blick auf Umfragen werden wir die größte tödliche Gefahr für unsere Sicherheit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht abwehren. Wir erleben einen epochalen geostrategischen Umbruch; einen massiven Gewaltexzess in der Mitte Europas und eskalierende Krisen in unserer direkten Nachbarschaft. Auf dem Spiel stehen nichts anderes als die Zukunft der künftigen Weltordnung. Was wir benötigen, ist eine glasklare und schnörkellose politische Führung - eine, die überzeugend argumentiert, warum wir uns gegen gewalttätige Regime verteidigen müssen, die nicht nur Europa in einen gesetzlosen Dschungel verwandeln wollen, in dem sich derjenige durchsetzt, der am brutalsten zuschlägt.

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Seit zwei Jahren suche ich nun nach einem deutschen Churchill - leider vergeblich. Russland hat auch uns den Krieg erklärt. Auf einen skrupellosen Gegner wie Putin kann man nicht effektiv reagieren, indem man auf den nächsten oder übernächsten Wahlkampf schielt. Das ist parteitaktisches Klein-Klein. Wir sind in einer Fünf-nach-zwölf-Situation. Entweder wir wollen Russland militärisch in der Ukraine besiegen oder wir wollen es nicht. Etwas dazwischen gibt es nicht. Für unser Zaudern zahlen die Ukrainer jeden Tag einen schrecklich hohen Preis.

Sie meinen die Taurus-Debatte?

Nicht nur die. Über Monate haben wir in Talkshows über den Unterschied zwischen Schützenpanzern und Kampfpanzern diskutiert, bevor die ersten Panzer an die Ukraine geliefert wurden. Mit diesen Verzögerungen haben wir Russland jedes Mal konkrete militärische Vorteile verschafft. Denn während dieser Zeit konnte es seine Truppen neu gruppieren, frische Kräfte mobilisieren und seine Stellungen ausbauen. Dieses Muster wiederholt sich immer wieder bei uns. Die Taurus-Debatte ist ja nur das jüngste Beispiel. In den acht Monaten, in denen die Politik über das Für und Wider von Taurus-Lieferungen diskutiert hat, hat Russland sein Arsenal an Lenkwaffen, weitreichenden Artilleriewaffen, Drohnen und anderen Fähigkeiten weiter ausgebaut. Und es hat sich frischen Nachschub aus dem Iran und Nordkorea organisiert. Russlands Kriegswirtschaft läuft mittlerweile auf Hochtouren, während Frau Baerbock oder Herr Pistorius von einem nutzlosen Sondergipfel zum anderen eilen. Dort flehen die Ukrainer wiederum um ausreichende militärische Unterstützung, während die Minister vor der Presse erklären, Deutschland werde die Ukraine solange wie nötig unterstützen. All das ist ein einziges und auch perfides Trauerspiel. Die Ukraine steht jetzt mit dem Rücken an der Wand und kann dem Ansturm der russischen Truppen nur mit allergrößter Mühe etwas entgegensetzen. Wenn wir wollten, könnten wir die Ukrainer morgen in die Lage versetzen, Russland massiv militärisch unter Druck zu setzen. Aber unsere politischen Entscheider tun es nicht.

Scholz betont immer, Deutschland sei nach den USA der größte Unterstützer der Ukraine. Das ist doch nicht falsch.

Aber nur bedingt korrekt. Schauen Sie sich den Ukraine Support Tracker an. Das ist im Grunde eine Datenbank, in der die finanziellen, humanitären und militärischen pledges, also Ankündigungen, von EU, NATO und einzelnen Unterstützerstaaten gesammelt werden. Die Daten sagen nichts darüber aus, was de facto vor Ort ankommt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen Geberkonferenzen während der NATO-Operationen in Afghanistan. Auch dort machten die Geberstaaten große Ankündigungen, aber es gab eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen dem, was versprochen und am Ende geliefert wurde. Die Einzigen, die einen Überblick darüber haben, was tatsächlich bei ihnen ankommt, sind die Ukrainer. Und ihre Führung sagt seit Langem, dass vieles nicht angekommen ist, was ihnen zugesagt wurde. Natürlich ist es nicht so, dass Deutschland nichts liefert. Aber man sollte die Zahlen des Ukraine Support Tracker nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen und verkünden, dass Deutschland quasi Weltmeister in militärischer Hilfeleistung wäre. Das ist schlicht nicht richtig. Und überhaupt: Wenn alles so glatt liefe, dann müsste die Ukraine ja nicht so verzweifelt um Unterstützung betteln, oder?

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Warum ist das so? Warum schaffen es die USA, die NATO und die Europäische Union nicht, die Ukraine adäquat auszustatten?

Fatal ist natürlich, dass die USA seit Monaten als Unterstützer ausfallen, aber vielleicht ändert sich das bald. Bei einigen Europäern fehlt eindeutig der politische Wille. Unter den 27 EU-Staaten und den 32 NATO-Mitgliedern gibt es solche, die gar nichts liefern: etwa die Türkei, Ungarn, die Slowakei. Spanien und Portugal, zum Teil auch Italien und Frankreich liefern deutlich weniger als sie könnten. In vielen NATO-Staaten hat es zudem viel zu lange gedauert, bis die eigene Rüstungsproduktion angekurbelt wurde. Nicht wenige Verteidigungsminister haben für die eher schlichte intellektuelle Erkenntnis, dass dieser Krieg lange dauern wird und die Ukraine langfristige Unterstützung braucht, mehr als ein Jahr gebraucht. Nun sagen sie der Ukraine: "Sorry, wir haben nichts mehr." Und dann gibt es Staaten, die ihr letztes Hemd geben, beispielsweise Dänemark, das der Ukraine seinen gesamten Vorrat an Artilleriemunition geschickt hat, oder die Tschechen, Finnen, Schweden und Balten, die ebenfalls viel geben - im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auch nach den Zahlen des Kieler Support-Trackers deutlich mehr als Deutschland. Das ist mehr als bewundernswert, aber ändert wenig an der Tatsache, dass die größten Volkswirtschaften in der EU, und dazu gehört Deutschland, nachweislich eben nicht umfangreich und zügig liefern. Und wenn Vizekanzler Habeck bei seinem jüngsten Besuch in Kyiv persönliche Betroffenheit über die desolate Lage demonstriert, dann mag das ja als Botschaft für seine grünen Parteianhänger interessant sein, aber an dem strategischen Gesamtbild und der Lage auf dem Schlachtfeld ändert es nichts. Herr Habeck hat leider auch nicht dazu beigetragen, dass die Ukraine Taurus-Raketen bekommt.

Die Bundesregierung hat gerade angekündigt, ein drittes Patriot-System zu liefern, und die NATO-Staaten wollen ebenfalls weitere Luftabwehrsysteme zur Verfügung stellen.

Ja. Und das ist natürlich gut. Aber Deutschland leitet seit Monaten die sogenannte NATO Air Defense Koalition. Das ist eine Gruppe von insgesamt 15 Staaten, die der Ukraine Luftverteidigungssysteme zur Verfügung stellen will. Was zum Teufel hat diese Gruppe bislang gemacht? Am 19. Februar haben sich ihre Mitglieder erneut getroffen und erklärt, dass sie der Ukraine nachhaltig und schnell Luftverteidigungsfähigkeiten liefern wollten. Aber nichts hat sich seitdem getan. Die USA haben beispielsweise 60 Patriot-Systeme und könnten sicherlich etliche davon abgeben. Jeden Tag werden Städte wie Charkiw oder Sumy von den Russen massiv angegriffen, jeden Tag sterben viele Menschen, und Präsident Selenskyj muss weiter flehen. Das ist doch keine ernsthaft strategische Antwort auf einen so revanchistischen und gewalttätigen Gegner wie Russland!

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Anfang April schrieb die italienische Tageszeitung "La Repubblica", in der NATO kursiere ein Szenario für den Fall, dass Trump die Präsidentschaftswahl im November gewinnt. Danach könne man Russland die eroberten Gebiete der Ukraine überlassen und würde das Land im Gegenzug sofort in die NATO aufnehmen. Halten Sie es für realistisch, dass in der NATO solche Überlegungen angestellt werden?

Mein ehemaliger NATO-Kollege Stian Jenssen, der Kabinettschef von Generalsekretär Stoltenberg, hat sich vor gut einem guten halben Jahr heftig die Finger verbrannt, als er unvorsichtigerweise auf einer Veranstaltung in Norwegen sagte, vielleicht könne die Ukraine mit Moskau einen "Land für Frieden"-Deal machen. Im Gegenzug würde die Ukraine dann Mitglied der NATO. Er musste dann zurückpaddeln, weil die Ukrainer verständlicherweise darüber sehr erbost waren. Es ist einzig und allein ihre Entscheidung, ob und unter welchen Umständen sie ihren legitimen Verteidigungskampf gegen Russland unterbrechen oder gar aufgeben wollen.

Präsident Selenskyj hat einen sehr überzeugenden Zehn-Punkte Friedensplan vorgelegt, der deutlich macht, was die Ukraine erwartet: Zunächst müssten sich die russischen Truppen vollständig zurückziehen und ihre Kampfhandlungen einstellen. Erst dann kann es Gespräche geben. Etwas anderes macht für die Ukrainer auch keinen Sinn.

Und was halten Sie von dem Szenario selbst?

In meinen Augen ist ein "Peace for Land"-Deal an Zynismus nicht zu überbieten. Wenn ich mir vorstellte, auch nur kleiner Landstrich Deutschlands, beispielsweise meine Heimat Schleswig-Holstein, würde aufgrund unserer eigenen mangelhaften Verteidigungsfähigkeit unter russische Besatzung fallen, und dann würde irgendein Parteiapparatschik in Berlin zu uns sagen: "Dumm gelaufen für euch, aber ihr müsst jetzt leider unter russischer Besatzung leben", dann werde ich wirklich wütend. Denn genau das ist es, was man den Menschen in den besetzten Gebieten zumuten will; in Mariupol oder Melitopol. Mittlerweile ist sehr gut dokumentiert, in welchem Ausmaß die russischen Besatzer dort Kriegsverbrechen verüben: systematische Folter, Morde, die Deportation von Kindern und die Eliminierung alles Ukrainischen.

Wir können den Ukrainern doch nicht ernsthaft vorschlagen, sich zu ergeben, damit wir hier unsere Ruhe haben, uns auf den nächsten Wahlkampf konzentrieren können und, wie der eine oder andere zu hoffen scheint, irgendwann wieder ins "big business" mit Russland einsteigen zu können! Wer das tut, macht sich nicht nur der unterlassenen Hilfeleistung für ein angegriffenes Land schuldig; er oder sie sollte tunlichst nie wieder Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte und internationale Regeln in den Mund nehmen - Prinzipien, die viele Politiker gerne in Sonntagsreden hochhalten, aber in der Realität offensichtlich nicht bereit sind, zu verteidigen. Aber selbst, wenn man diesen Aspekt außer Acht ließe und keinen funktionierenden moralischen Kompass hätte, wäre ein "Land für Frieden"-Deal auch ein großer strategischer Fehler.

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Warum?

Sollte Russland die Ukraine militärisch besiegen oder sich dauerhaft in den besetzten Gebieten festsetzen können, würde sich kein neuer Eiserner Vorhang über Europa senken, sondern ein löchriges Tarnnetz, durch das Putin weiter durchstoßen würde. Unsere Glaubwürdigkeit als westliche Staatengemeinschaft wäre dahin. Andere autoritäre und gewaltbereite Regime wie der Iran und China würden sich ermutigt fühlen, ebenfalls mit militärischer Gewalt Grenzen zu verschieben und fremde Staatsgebiete zu erobern. Wie könnten wir gewaltbereite Gegner jemals wieder abschrecken, wenn wir selbst nicht in unserer unmittelbaren Nachbarschaft die Vernichtung eines unabhängigen Staates verhindern wollen?

Nein, ein Sieg Russlands wäre nicht nur eine vollständige Bankrotterklärung des Westens, sondern die Sieger - Russland und seine Unterstützer - würden die Regeln der zukünftigen Weltordnung neu definieren. Ein vergleichsweise geringer Nebeneffekt wäre, dass Millionen von Ukrainer ihre Heimat verlassen würden. Aus wiederum sehr nachvollziehbaren Gründen. In jedem Fall wären die strategischen Konsequenzen fatal.

Wäre eine Aufnahme einer Rest-Ukraine in die NATO nicht doch eine Option, die aus ukrainischer Sicht attraktiv sein könnte?

Wenn ich Ukrainer wäre, dann würde ich mich heute - nach zwei Jahren Krieg - nicht mehr auf die NATO-Solidaritätsbekundungen verlassen. Warum auch? Immer noch wollen einige Bündnismitglieder, allen voran Deutschland und die USA, die Ukraine auf den Tag X vertrösten. Wann die Ukraine tatsächlich unter den Schutzschirm der NATO kommen kann, lassen sie bewusst offen. Stattdessen offerieren sie der Ukraine ein Trostpflaster nach dem anderen: von der Verleihung des Karls-Preises bis zu einem Gipfelmarathon ist alles dabei. Aber nette Bilder von händeschüttelnden Ministern mit Selenskyj ersetzen keine Artilleriemunition, keine F-35 und keine Taurus-Raketen. Das sind rein symbolische Gesten. Und: Wie viele Deutsche würden sich solidarisch an die Seite der Ukraine stellen und sie mit verteidigen, sollte die Ukraine tatsächlich eines Tages NATO-Mitglied werden?

Seit 2008 werbe ich für einen NATO-Beitritt der Ukraine, und ich hoffe immer noch darauf, dass der NATO-Gipfel in Washington im Juli genutzt wird, um mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Das wäre ein wichtiges strategisches Signal an Putin. Aber ich bin mir bewusst, dass die Chancen dafür sehr klein sind. Weder im Kanzleramt noch in der Biden-Administration will man den ersten Schritt zur Aufnahme der Ukraine in die NATO tun. Ich weiß nicht, worauf die Herren Scholz und Biden warten. Darauf, dass die russische Fahne über Odessa und Charkiw weht? Dass Präsident Selenskyj und seine Mitstreiter einem russischen Attentat erliegen und das Land in Chaos versinkt? Oder eher auf den Moment, an dem sie sich medienwirksam mit Putin an den Verhandlungstisch setzen? Ich bin mir allerdings sicher, dass es für Putin keine roten Linien gibt, während die Köpfe von Scholz und Biden voller roter Linien sind und sie keinen echten Mut zeigen. Das kann für uns alle, nicht nur für die Ukraine, fatal enden.

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Mit Stefanie Babst sprach Hubertus Volmer

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