Bayer Leverkusen: Mein Mann, James Bond und das Bayer-Paradox

8 Mär 2024
Bayer Leverkusen

In unserer Kolumne "Grünfläche" schreiben abwechselnd Christof Siemes, Anna Kemper, Oliver Fritsch und Stephan Reich über die Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 10/2024.

Seit einiger Zeit tauchen in dem Terminkalender, den ich mit meinem Mann teile, seltsame neue Notizen auf: "VVK Berlin" lautete die erste, dann folgte "VVK Bremen". Dahinter verbargen sich, wie ich herausfand, die jeweiligen Starttermine für den Vorverkauf für Vereinsmitglieder der Spiele von Bayer Leverkusen am 28. und 29. Spieltag. Mein Mann hatte sie eingetragen, denn er will in dieser Saison so viele Bayer-Spiele wie möglich sehen, und – anders, als er es von seinem Verein gewohnt ist – muss man sich im Vorverkauf ranhalten, um überhaupt eine Karte zu kriegen. Der neueste Eintrag im Kalender ist zugleich der wichtigste: "VVK Stuttgart", 31. Spieltag. Stand jetzt der früheste Termin, an dem Bayer Leverkusen Meister werden könnte.

"Es könnte tatsächlich passieren!!!!" schrieb ein Freund meinem Mann neulich direkt nach Abpfiff. Der Freund ist eigentlich Bremen-Fan, er fieberte mit, weil ihn die Situation meines Manns so erinnert an die Saison 2003/04, als er zu fast jedem Spiel reiste, um dabei zu sein, als Bremen Deutscher Meister wurde. Er war nicht der Einzige, der sich meldete, nach jedem Spiel bekam mein Mann in den vergangenen Wochen begeisterte Nachrichten von Freunden, in denen sein Verein und er als Fan mit Zuneigung überschüttet wurden. Im Alltag war es nicht anders, "alle wollen plötzlich mit mir über Bayer reden", bemerkte er neulich freudig und erstaunt. Eigentlich ist er es seit vier Jahrzehnten gewohnt, auf sein Bekenntnis, Leverkusen-Fan zu sein, mit Desinteresse oder Unverständnis konfrontiert zu werden statt mit Begeisterung. Einzige Ausnahme: 2002, als Bayer alles hätte gewinnen können und das Einzige, was es mitnahm, der Spitzname "Vizekusen" war, der sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat.

Damals spielte Bayer unter Klaus Toppmöller so schönen Fußball, dass man gar nicht umhinkam, sie mindestens zu schätzen. Und zu fürchten. Vor einigen Jahren habe ich mal eine Reportage über Real Madrid geschrieben und dafür auch einen betagten Fan interviewt, der seit Jahrzehnten eine Dauerkarte hatte. Er sagte mir, er habe nur ein einziges Mal um seinen Verein wirklich gebangt: Im Champions-League-Finale 2002, als Real es nur einem Traumtor von Zidane verdankte, gegen Leverkusen nicht zu verlieren.

Jetzt ist es ähnlich. Bayer könnte Meister werden, ohne eine einzige Niederlage. Das klingt irre, aber man kann es sich kaum vorstellen, wie und wo und gegen wen sie verlieren sollten, geschweige denn einbrechen sollten, was ja nötig wäre, um die Meisterschaft noch an die Bayern abzugeben. Fußballdeutschland liegt Xabi Alonso zu Füßen, dem man zutrauen würde, selbst das ausstehende James-Bond-Casting für sich zu entscheiden. Die spannende Frage, wessen Vizefluch stärker ist, Harry Kanes oder Leverkusens, scheint jedenfalls schon so gut wie geklärt.

Paradoxerweise aber scheint all das zu früh zu sein. Denn so lange es noch richtig spannend zu bleiben schien, waren alle Herzen mit dem Bayer-Kreuz. Würden sie die Meisterschaft erst mit dem letzten Spiel holen – die Dankbarkeit, vielleicht sogar der Jubel der von der Bayern-Monotonie gelangweilten Fußballfans wäre den Leverkusenern sicher. Aber der emotionale Höhepunkt der Meisterschaft wird aller Wahrscheinlichkeit nach das wunderschöne 3:0 von Frimpong gegen die Bayern bleiben, eine Art Urknall des Glücksgefühls, das sich seitdem ausdehnt und dabei immer schwächer wird. Denn die Zeit bis zur Übergabe der Schale ist noch lang, so lang, dass vielen Fans in der spannungsarmen Zwischenzeit wieder einfällt, dass Bayer eigentlich immer zu den Vereinen gehörte, die sie im besten Fall so langweilig wie Heidenheim und im schlimmsten Fall so anstößig wie RB Leipzig finden. Und sollten die Leverkusener das jetzt so durchziehen, werden sich alle so an die Chronik einer angekündigten Meisterschaft gewöhnt haben, dass sie höchstens mit den Schultern zucken. Mein Mann spürt ihn jedenfalls schon, den Wermutstropfen inmitten des beeindruckenden Leverkusener Erfolgs: dass sie vielleicht einfach zu gut sind, um ganz am Ende doch endlich gemocht zu werden.

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