Fussball: Wie der Kultklub St. Pauli dem Aufstieg entgegenstrebt

Angetrieben von einem «Besessenen»: Wie der FC St. Pauli dem Bundesliga-Aufstieg entgegenstrebt

Der Klub von der Hamburger Reeperbahn wird für seinen spektakulären Fussball gefeiert. Den hat sich ein junger Trainer mit Schweizer Pass ausgedacht.

St. Pauli - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Er passt zu St. Pauli, als sei er für den Kultklub erfunden worden: Jackson Irvine, Dirigent im Mittelfeld.

Stuart Franklin / Getty

Wie lange wird es noch dauern? Ein oder zwei Spiele, bis gesichert ist, wonach sich die Anhänger in Hamburg sehnen? Nach dem Aufstieg, endlich wieder, zum ersten Mal nach so vielen Jahren wieder erstklassig sein. Einen weiteren Schritt dazu hat St. Pauli am Freitagabend gemacht, mit einem 1:0 gegen Hansa Rostock. Die Gesänge von den Rängen sind euphorisch: «Die Nummer eins der Stadt sind wir.»

Selbstbewusst, das sind sie, die Anhänger des FC St.Pauli. An der Tabellenspitze stehen sie gemeinsam mit Holstein Kiel – und nicht der einst mächtige Lokalrivale HSV. Das Publikum quittiert die aufreibende, aber keineswegs souveräne Darbietung im Nordderby gegen Rostock mit lautem Jubel noch lange nach dem Schlusspfiff.

Die Vorfreude auf das kommende Wochenende ist förmlich mit Händen zu greifen. Dann geht es gegen den HSV. Den Aufstieg nicht im Heimstadion, dem legendären Millerntor, sondern im Hamburger Volkspark vollenden zu können – eine solche Vorstellung hätten selbst notorische Träumer noch vor kurzem als utopisch abgetan.

Konservative Fussballfreunde haben es nicht leicht

Verhindern lässt sich der Schritt in die Bundesliga kaum noch. St. Pauli erstklassig – das ist beileibe keine Premiere, erstmals waren sie das Ende der siebziger Jahre. Aber es verströmt immer noch einen Hauch von Sensation. Schliesslich hat der Klub den unbestreitbaren Nimbus als Kultklub Nummer eins. St. Pauli, das ist nicht nur Fussball, das ist Folklore bis zum Bersten: das Domizil nahe der Reeperbahn, die alternative Szene, Antikapitalismus, Antifa, Antirassismus – die ganze Palette.

Das gute Gewissen des deutschen Fussballs, das es konservativen Fussballfreunden nicht ganz einfach macht: Selbstverständlich, man spielt Fussball «gegen rechts», und auch die Binsenwahrheit, dass «Hass keine Meinung» ist, wird nach wie vor für mitteilenswert gehalten. Wobei das Engagement der Hamburger tatsächlich originär und nicht opportunistisch ist. St. Pauli begriff sich in diesem Punkt immer als Avantgarde. Wer auch immer es genauso tat: Er war bloss ein Nachahmer.

Insofern waren die Hamburger durchaus stilprägend. Aber das allein macht St. Pauli nicht aus. Das Millerntor, mittlerweile etwas mehr als 29 000 Zuschauer fassend, steht prototypisch für die Faszination eines Stadions mitten in der Grossstadt. Keine andere Arena der ersten und zweiten Bundesliga hat mehr vom Charme eines englischen Stadions als das Millerntor, nicht einmal die Alte Försterei des 1. FC Union aus Berlin Köpenick.

Im Millerntor kann es durchaus windig zugehen, da drei der vier Stadionecken offen sind. Wer auf der Haupttribüne sitzt, wird allerdings mit einem Blick auf die Elbphilharmonie entschädigt, deren Silhouette sich wie ein Segelschoner ins freie Stadioneck zu schieben scheint. Nirgends sind Stadt und Stadion für den Besucher näher beieinander als hier.

Aber es ist nicht nur der Reiz der architektonischen Details. «Nice ’n’ Sleazy» von den «Stranglers» in der Halbzeitpause bei Borussia Dortmund? Bei St. Pauli ist das unvorstellbar wie anderswo ein ehemaliger Theaterimpresario als Vereinspräsident. Den hatte St. Pauli einst in Corny Littmann, der sich als erster Funktionär im deutschen Fussball offen zu seiner Homosexualität bekannte – und der sich nicht scheute, die Bayern zu einem Benefizspiel zu empfangen, als St. Pauli finanziell vor dem Ruin stand. Ähnlich flamboyantes Spitzenpersonal hat bis heute kein anderer Bundesligist zu bieten.

St. Pauli ist mehr als Folklore

Es wäre allerdings nicht legitim, St. Pauli bloss auf die folkloristische Note zu reduzieren. Dass in Hamburg seriös gearbeitet wird, kann zumindest einer der beiden Zweitligisten für sich beanspruchen, und dieser heisst nicht unbedingt Hamburger SV. Die sportliche Planung ist gediegen, der Sportdirektor Andreas Bornemann zeigt immer wieder einen präzisen Blick für gute Verpflichtungen. Zum Beispiel für den Captain Jackson Irvine, einen australischen Nationalspieler, der im Mittelfeld dirigiert und weite Wege zwischen den Strafräumen zurücklegt.

Manche Fans sagen über ihn, einen solchen Spieler für St. Pauli hätte man nicht besser erfinden können. Die ganze Erscheinung passe perfekt ins Hamburger Milieu: ein d’Artagnan der Subkultur mit ausgreifend tätowierten Unterarmen, der mit seinem wehenden Haar und dem Musketierbärtchen auch einen Mantel-und-Degen-Film hätte veredeln können. Was für den Trainer Fabian Hürzeler allerdings wichtiger ist als die ästhetische Note: Jackson Irvine ist ein Leader par excellence, an dessen Erstligaqualitäten in Hamburg kaum jemand zweifeln dürfte.

Manche Klubs beneiden St. Pauli um diesen Trainer: Fabian Hürzeler, Coach mit Schweizer Pass.

Steinbrenner/Imago

Aber spielte er je so gut wie in dieser Saison? St. Paulis Aufschwung wäre nicht zu erklären ohne diesen Trainer, um den mancher Konkurrent die Hamburger beneidet. Fabian Hürzeler ist gerade 31 Jahre alt. Manchmal wird von ihm behauptet, er sei Schweizer, was nicht unbedingt falsch, aber auch nicht ganz richtig ist. Hürzeler verfügt über drei verschiedene Pässe: Sein Vater ist Schweizer, die Mutter Deutsche, geboren wurde er in den USA, wo der Vater als Zahnarzt praktiziert. Seine fussballerische Sozialisation vollzog sich ausschliesslich in Deutschland, in München, wo er als Spieler im Nachwuchs des FC Bayern begann.

Stationen als Spielertrainer in Pipinsried und als Assistenztrainer in den Juniorenteams des Deutschen Fussball-Bundes führten ihn nach Hamburg, als Assistenten des Cheftrainers Timo Schultz, der zum Inventar des Vereins zählte – als Profi und auch als Trainer. Als Schultz Ende 2022 das Team mit nur drei Siegen in Abstiegsgefahr bugsiert hatte, wurde er entlassen und der Assistent befördert.

Hürzeler mit damals 29 Jahren zum Trainer eines Profiteams zu machen, war zweifellos eine riskante Entscheidung, zumal er auf eine Klubikone folgte. Dessen sei man sich durchaus bewusst gewesen, sagt Oke Göttlich, der Präsident des Klubs. Dass es mit Hürzeler eine derart rasante Entwicklung in Hamburg nehmen würde, habe niemand voraussehen können, sagt Göttlich. Vermutlich wären sie auch mit deutlich weniger zufrieden gewesen.

«Ein Besessener» – so beschreibt der Präsident den Trainer Hürzeler. Göttlich, ehemals Journalist bei der «TAZ», erinnert sich an eine Episode, als Hürzeler ihm erzählt habe, er wolle am liebsten «einen Raum mit fünf Monitoren» haben, auf dem er fünf Spiele gleichzeitig schauen könne.

Unter Spannung wie ein Zitteraal

Was nach einer irrwitzigen Aussage klingt, wirkt aber gar nicht übertrieben, wenn man Hürzeler aus nächster Nähe erlebt. Wenn er erzählt, dann reflektiert er unentwegt, dann geht es um Details, dann spiegelt sich in seiner Rhetorik ein Streben nach Perfektion, wie es kaum ein Kollege öffentlich zeigt.

Stellt man sein Alter in Rechnung, den Umstand, dass St. Pauli seine erste Trainerstation bei den Profis ist, dann wirkt er in seiner Besonnenheit fast schon ein wenig unheimlich, wenngleich er eine gewisse Anspannung nie abstreifen kann, diese Zitteraalhaftigkeit, die ihn auch in ruhigen Momenten wie elektrisiert erscheinen lässt.

Bahn bricht sich diese Impulsivität nur am Spielfeldrand. Wer auf den Spielberichtsbogen gegen Hansa Rostock schaute, der sah unter den von einer Sperre bedrohten Akteuren auch den Trainer Hürzeler aufgelistet: Sieben Mal ist er vom Schiedsrichter verwarnt worden – bereits zweimal wurde er auf die Tribüne verwiesen.

Manche im Verein sagen, er habe das Zeug dazu, einen Klub in der Champions League zu trainieren, und wenn man sieht, wie er auf seine Mannschaft einwirkt, wie er sie coacht, wie er im richtigen Moment wechselt, dann kommt man nicht umhin, solche Perspektiven für keine Übertreibung zu halten.

Und er hat Freude daran, sein Wissen über Fussball zu vermitteln. Bemerkenswert ist die Geduld, mit der Hürzeler seine Idee vom Fussball erklärt, mit der er ohne die Attitüde des Lehrmeisters auf alle Fragen eingeht. Nachdem die Pressekonferenz schon längst beendet ist, erklärt er noch immer den Reportern, die einen Halbkreis um ihn gebildet haben, worum es geht.

Um die richtige Defensivformation, aber auch um die Vorfreude auf das Derby in der kommenden Woche gegen den HSV. Hürzeler sagt: «Ich will Stadtmeister werden und das Stadtderby gewinnen.» Sollten es die Umstände besonders gut mit St. Pauli meinen, dann wäre es der entscheidende Schritt zum Aufstieg.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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