Till Lindemanns neue Single „Zunge“: Erstes Lied des Rammstein ...

8 Sep 2023

Dies ist keine gewöhnliche Song-Kritik. Wenn man darüber nachdenkt, gibt es selten so etwas wie eine gewöhnliche Song-Kritik – Zeitungen und Zeitschriften rezensieren normalerweise ein ganzes Album. Aber Till Lindemann ist auch kein herkömmlicher Künstler. Auch ist das Erscheinen des neuen Liedes „Zunge“ kein ganz gewöhnlicher Vorgang. Und gäbe es die ganze Causa Lindemann/Rammstein nicht, so hätte sich wohl niemand die Mühe gemacht, ein einzelnes Lied zu rezensieren.

Till Lindemann - Figure 1
Foto Berliner Zeitung

Die Autorin dieses Textes hat sich bewusst dafür entschieden, sich auf die Musik zu konzentrieren und nicht so zu tun, als sei sie schockiert über das Werk von Till Lindemann, seine Songtexte oder die visuellen Aspekte seines neuen Videos. Sie wird Ihnen ebenfalls die Einschätzung ersparen, ob der Text des neuen Songs „Zunge“ in irgendeiner Weise mit dem Fall Lindemann und den Missbrauchsvorwürfen zusammenhängt, die in den vergangenen Monaten einen Schatten auf Lindemann und seine Band Rammstein geworfen haben.

Eines ist klar: Hätte die Berliner Staatsanwaltschaft nicht schon vor zehn Tagen beschlossen, die Ermittlungen gegen Till Lindemann einzustellen, wäre dieses Lied wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden. So gesehen markiert der Song „Zunge“ den Beginn der Ära der „Post-Vorwürfe-Zeit“ gegen Lindemann beziehungsweise Rammstein. Dieser Song verdient es, eher nach seinem musikalischen Wert als nach seinem Empörungspotenzial beurteilt zu werden.

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„Ach, mein Herz, das ist gebrochen – doch es schlägt noch, steht nie still“

Der Song wurde pünktlich um Mitternacht Ortszeit veröffentlicht, nachdem er bereits Minuten zuvor geleakt worden war. Bei „Zunge“ handelt es sich um eine vier Minuten und 30 Sekunden lange klaviergetragene Ballade.

„Da ist ein Loch in dem Gesicht / Das ist der Mund, mit dem man spricht“ sind die Worte, mit denen Lindemann sein Schweigen bricht. Auf dem Cover der Single ist ein Foto von Lindemann zu sehen, sein Mund ist zugenäht, sein Gesicht blutverschmiert. Nur wenige Sekunden später kommt der gitarrenlastige, dynamische Refrain: „Meine Zunge hat keinen Knochen / Und so sag’ ich, was ich will / Ach, mein Herz, das ist gebrochen / Doch es schlägt noch, steht nie still“. Worte, die im Lichte der Entwicklungen der vergangenen Monate mit Sicherheit auf viele Arten interpretiert werden können. Allein die Zeile „So viele haben so viel geweint“ lässt auf eine wachsende Wehmut schließen.

Till Lindemann - Figure 2
Foto Berliner Zeitung

Flotte Tanznummern wie bei Lindemanns Projekt mit dem schwedischen Death-Metal-Wunderkind Peter Tägtgren (die Zusammenarbeit wurde vor drei Jahren abrupt beendet) wird man in dem neuen Song nicht finden. „Zunge“ ist auch nicht ein weiterer albtraumhafter Elektro-Industrial-Ohrwurm, den Lindemann mit seiner 2021er-Single „Ich hasse Kinder“ veröffentlicht hat. Es ist eher eine Hommage an eine Seite Lindemanns – wie auch Rammsteins –, die seit ihrem „Mutter“-Album immer häufiger zum Vorschein kommt: Diese Seite ist geprägt von düsterer Schlichtheit, untermauert durch einen dramatischen Refrain, überlagert von Lindemanns einzigartiger Baritonstimme, die man unter Tausenden anderen erkennen kann.

Für Fans der Zusammenarbeit zwischen Lindemann und Tägtgren ist die Abwesenheit des Schweden spürbar. Die Inszenierung hätte bombastischer, die Wirkung dramatischer sein können. Alles in allem ist der Song „Zunge“ nicht Lindemanns ultimatives Meisterwerk. Nüchtern betrachtet klingt der Song wie ein Überbleibsel des neuesten „Rammstein“-Albums – einer, der es verdient hätte, auf der neuen Platte zu sein.

Wenige Monate vor Lindemanns Solotournee bleibt unklar, ob diese Single der Vorbote eines Albums ist. Es wird unter Till Lindemanns vollem Namen und nicht unter dem Markennamen „Lindemann“ veröffentlicht, dem Projekt mit Tägtgren, aus dem zwei Alben hervorgingen. Für diesen Herbst ist eine Solotournee angekündigt, wobei nur etwa ein Drittel der Konzerte ausverkauft ist – ein Termin in Berlin fehlt vorerst.

Till Lindemann - Figure 3
Foto Berliner Zeitung

„Moskau – ras, dwa, tri“

Auf YouTube erscheint das Video zum Song erst am Freitagnachmittag (8.9.), jedoch erhält die Beschreibung schon mehrere Hinweise zum Kontext der Produktion. Interessanterweise scheint es unter anderem in Russland gedreht worden zu sein. Die Namen der Mitwirkenden deuten stark darauf hin, von der Schauspielerin, die an Lindemanns Seite spielt, bis zu den „Assistenten im Tigerkäfig“. 

Will Lindemann (wie gewohnt) „provozieren“ und „schockieren“, indem er seine Liebe zu Russland auch im zweiten Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges bekennt? Und das zu einer Zeit, in der die meisten Künstler das Land boykottieren?

Wie es sich herausstellt, ist dies nicht der Fall. In der Beschreibung wird deutlich: Das Video wurde 2021 gedreht, also vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Es ist ebenfalls anzunehmen, dass der Song selbst länger in Lindemanns Schublade gelegen und auf den richtigen Moment zur Veröffentlichung gewartet hat, zwischen dem Rammstein-Album „Zeit“ von 2022 und der großen Tournee, die von der Missbrauchsdebatte überschattet wurde.

Es bleibt abzuwarten, wie die Öffentlichkeit und die Medien Lindemanns neuen musikalischen Vorstoß aufnehmen werden. Zumindest Radio eins hat bestätigt, dass es Rammstein und seinen Frontmann trotz der Einstellung der Ermittlungen weiterhin boykottiert. Die wachsende Fangemeinde in den verschiedenen, ohnehin schon großen Facebook-Gruppen der Musiker lässt vermuten, dass der Song zumindest in den deutschen Charts einen Platz einnehmen wird.

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