Hertha-Coach Dardai: "Wir sind 2024 ein bisschen verhext"

1 Feb 2024

Der Fehlstart ins Jahr 2024 ist perfekt: Hertha BSC muss nach dem Aus im DFB-Pokal aufpassen, binnen weniger Tage nicht alles zu verspielen.

Hertha - Figure 1
Foto kicker

Hertha-Coach Pal Dardai hat wohl etwas zu viel experimentiert. IMAGO/Jan Huebner

Wenn am 25. Mai im Berliner Olympiastadion ein rauschendes Fußballfest gefeiert wird, ist Hertha BSC mal wieder nur Zuschauer im eigenen Wohnzimmer. Herthas Profis wollten gegen den 1. FC Kaiserslautern die in Jena, gegen Mainz und den Hamburger SV begonnene Geschichte weiterschreiben - und scheiterten am Mittwochabend beim 1:3 an einem kompakten, konzentrierten Gegner und an sich selbst. "Wir haben viel zu viele Fehler gemacht", sagte Sportdirektor Benjamin Weber nach dem Knockout im Viertelfinale, in dem der Hauptstadtklub erstmals seit 2016 wieder stand. "Wir hatten den Traum. Der ist jetzt geplatzt. Das ist schade und ärgerlich."

Damit ist der Fehlstart ins Jahr 2024 perfekt. In der 2. Liga 2:2 gegen Düsseldorf und 1:3 in Wiesbaden, jetzt das Aus im Cup-Wettbewerb nach einer erschreckend blutleeren ersten Halbzeit - und am Samstag gastiert der Hamburger SV im Olympiastadion. "Im ersten Monat", hatte Trainer Pal Dardai im Winter-Trainingslager im spanischen La Manga mit Blick auf die Rückrunde gesagt, "wird sich ziemlich viel entscheiden." Jetzt besteht die Gefahr, dass Hertha binnen weniger Tage alles verspielt. Der kicker nennt die Gründe für das aktuelle Tief.

Mentale Blockade: Dem schwachen, zaghaften Liga-Auftritt in Wiesbaden folgte vier Tage im wichtigsten Saisonspiel ein erster Durchgang, in dem Hertha wie gelähmt wirkte. "Wir hatten gerade in der ersten Hälfte in Ballbesitz nicht die Energie auf dem Platz, die uns das Stadion und die Zuschauer gebracht haben", gestand Sportdirektor Weber. Trainer Pal Dardai wurde noch deutlicher: "Wenn wir führen oder es unentschieden steht, verstecken wir uns. Wenn der Gegner führt, fangen wir an, Fußball zu spielen. Das müssen wir analysieren und unsere Köpfe ein bisschen reinigen."

"Es kann sein, dass wir zu viel geträumt haben"

Der Traum vom Finale im eigenen Stadion, dazu der von einigen mutmaßlich immer noch nicht verarbeitete Schock über den Tod von Präsident Kay Bernstein Mitte Januar: Das Gedenken an Bernstein war auch gegen den FCK präsent. Vor dem Anpfiff gab es in der Ostkurve eine XXL-Choreo mit einem Zitat Bernsteins, seine Witwe war erstmals seit dessen Tod im Stadion. Es war ein Spiel, das mit Erwartungen und Emotionen überfrachtet war. Dem hielt das Team nicht stand. "Es kann sein, dass wir zu viel geträumt haben und zu viel davon gelesen und darüber geredet haben", sagte Dardai. "Mich hat es damals tierisch motiviert, wenn so viele Zuschauer da waren. Heute waren wir blockiert. Einige dachten, sie hätten zu viel zu verlieren. Dabei hatten sie nur etwas zu gewinnen." Davon war 45 Minuten lang nichts zu sehen.

Wir haben zu viele langsame Spieler.

Tempodefizite: Vor allem in der Zentrale ist Hertha oft zu langsam. "Lautern war dynamischer als wir", sagte Dardai. "Wir haben zu viele langsame Spieler." Das betrifft vor allem das zentrale Mittelfeld. Herthas Speedkönig Marten Winkler, in der 2. Liga aktuell mit 36,17 km/h hinter Osnabrücks Christian Joe Conteh (36,22 km/h) zweitschnellster Spieler, fehlte im Pokal angeschlagen. Die nächstschnellsten Hertha-Profis in dieser Saison rangieren ligaweit auf den Plätzen 30 (Fabian Reese mit 34,63 km/h) und 35 (Michal Karbownik mit 34,49 km/h). Zum Vergleich: Pokalgegner Kaiserslautern hat im Geschwindigkeits-Ranking der 2. Liga gleich fünf Profis in den Top 20 (Opoku, Redondo, Puchacz, Tachie, Ache).

Fehlende Effizienz: Hertha war in der Hinrunde eine Torfabrik. Aktuell hat die Berliner Offensive immer öfter Produktionsausfall. Schon in Wiesbaden verpasste Hertha mehr Ertrag und ließ zum Teil hochkarätige Chancen aus (Barkok, Tabakovic, Prevljak), gegen den FCK setzte sich das fort. Haris Tabakovic und Aymen Barkok trafen mehrfach in aussichtsreicher Position den Ball nicht voll, Tabakovic verpasste kurz nach dem Seitenwechsel  nach Vorarbeit von Edeljoker Fabian Reese den Anschluss - und damit die Chance auf eine Wende. Dardai: "Der Gegner war effektiv, wir nicht."

Ein quirliger, flinker Balldieb fehlt im Berliner Aufgebot

Problemzone Sechs: Seit Sommer ist das defensive Mittelfeld die Hauptbaustelle im Kader. Wunschspieler Diego Demme (SSC Neapel) war nicht zu bekommen, ein quirliger, flinker Balldieb fehlt bis heute im Berliner Aufgebot. In Wiesbaden konnten Marton Dardai und Andreas Bouchalakis die Konterwellen der Gastgeber nicht brechen. Im Pokal-Viertelfinale setzte der Coach, der Pascal Klemens (Infekt) kurzfristig als Planungsgröße streichen musste, auf Deyovaisio Zeefuik und Aymen Barkok - und kritisierte danach: "In der ersten Hälfte haben sich beide Sechser versteckt und wollten nicht den Ball haben. Mit der Körpersprache wirst du nicht angespielt." Zeefuik ging zur Pause raus. Bouchalakis ersetzte ihn, kam gut rein - und legte Lautern mit einem folgenschweren Fehlpass das dritte Tor auf. Der am Donnerstag verpflichete Engländer Bradley Ibrahim (19, Arsenal) wird eher als Perspektivspieler und weniger als Soforthilfe gesehen. Allerdings: Bei der Vakanz auf der Sechs könnte seine Chance schneller als gedacht kommen.

Barkok noch kein Faktor: Der Winter-Neuzugang wartet weiter auf den Erweckungsmoment. Joker gegen Düsseldorf, Startelfdebüt in Wiesbaden auf der Zehn, gegen Lautern dann Teil der Doppel-Sechs mit dem Auftrag, Akzente nach vorn zu setzen - Barkok versucht viel, aber bislang gelingt ihm wenig: im Spiel und bei seinen Torabschlüssen. Er muss und will sich steigern. Hertha hofft weiter auf die Kreativität der Mainz-Leihgabe.

Experimente zum falschen Zeitpunkt: Aus Mangel an fitten Flügelspielern und um nach dem porösen, pomadigen Auftritt in Wiesbaden das Zentrum zu stabilisieren, setzte Dardai im Pokal auf ein 3-4-3 - und kassierte das Experiment nach 45 Minuten wieder ein. Im gewohnten 4-2-3-1 hatte Herthas Spiel im zweiten Durchgang, angetrieben vom eingewechselten Reese, mehr Struktur und Temperatur. Im Wintertrainingslager in La Manga hatte Dardai die Dreierkette einstudieren lassen, im 3-5-2 ging allerdings schon das Testspiel gegen KV Mechelen (0:3) in die Hose. Ein Problem: Eine Viruswelle schwächte in Spanien und den Wochen danach Hertha und reduzierte die Zahl der Optionen auf den Flügeln. "Seit drei Wochen schleppen sich 60 Prozent der Spieler mit Norovirus und Grippe durch. Die halbe Mannschaft hat mit Spritzen und Medikamenten gespielt", sagte Dardai nach dem Pokal-K.o. "Wir sind 2024 ein bisschen verhext."

Der Ungar überraschte auch mit dem Einsatz von Keeper Marius Gersbeck, der für Tjark Ernst spielte und gegen den HSV am Samstag wieder auf der Bank sitzt. Dardai: "Tjark bleibt unsere Nummer 1. Selbst wenn Marius heute zehn Elfmeter gehalten hätte, hätte am Wochenende Tjark gespielt." Neues System, Wechsel im Tor, dazu Barkok auf der Sechs - es waren taktisch und personell ein paar Experimente zu viel im wichtigsten Spiel der Saison.

Steffen Rohr

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