Franz Kafka in Fotografien der Familie: eine schwierige Konstellation

Als Franz Kafka einmal lächelte. Eine Ausstellung mit Familienfotos des Dichters

Wie sehr Franz Kafka ein Fremdkörper in seiner Familie war, zeigt sich nirgends deutlicher als in den Fotografien. Meist fehlt er, wenn Eltern und Kinder sich vor dem Fotografen aufstellen.

Kafka - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla am Eingangsportal des Prager Wohnhauses der Familie, zweite Hälfte der 1910er Jahre.

Archiv Klaus Wagenbach / Hand-Gerd Koch

Es muss nicht jeder ein Familienmensch sein, und Franz Kafka war ziemlich sicher keiner. In den Erinnerungen von Nichten und Neffen ist der Schriftsteller ein seltsamer Troll. Die Tochter seiner Schwester Elli erinnert sich, dass er «einen Schatten auf unsere Kindheit» geworfen habe, und Kafka notiert über sein flagrantes Treiben ins Tagebuch: «Als Hinkender die Gerti geschreckt, das Schreckliche des Pferdefusses.»

Kafka und Familie, das ist ein tragikomischeres Konstrukt, als es die feine, jetzt in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden zu sehende Ausstellung «Das Fotoalbum der Familie Kafka» vermuten lässt. Man begegnet einer Aufsteigergeneration, die sich die kosmopolitischen Möglichkeiten der K.-u.-k.-Monarchie zunutze macht. Kafkas Vorfahren wechseln die Klasse und vergessen dabei auch nicht die Selbstverfeinerung durch Kultur.

Franz ist ein Kind dieser Verhältnisse, und er wird seinem Vater nicht verzeihen, beim Aufstieg auf so vernünftige Weise bodenständig geblieben zu sein. Kafkas Horror vor der Familie ist ein Horror vor Verwandtschaft in einem geistig-genetischen Sinn. Seinen berühmten «Brief an den Vater» schreibt er, um sich zu distanzieren, wohl wissend, dass es zu diesem dominanten Mann nur so etwas wie Hassliebe geben kann.

Böse Miene und geheimer Ernst

Die Berliner Ausstellung wurde von Hans-Gerd Koch gestaltet, dem Herausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe und des Bildbandes «Kafkas Familie». Er kennt das Werk und orchestriert ein Nebeneinander von Stimmen und Bildern. Zitate aus dem «Brief an den Vater» stehen neben den kantigen Porträts von Hermann Kafka. Die Mutter, Julie Löwy, ist von herber Schönheit. Noch im Alter wirkt das Paar wie holzgeschnitzt.

Hans-Gerd Koch hat vieles versammelt, was man schon kennt, und einiges Neues aus den Familienarchiven der Kafka-Nachfahren nach Berlin geholt. Wie aus einer grossen Fotoschachtel hervorgekramt wirken die unterschiedlichen Formate und schaffen eine Aura des Authentischen. Darin meint man die Kafkas als Ganzes zu lesen, aber in Wahrheit hat man hier eine Familie widerstrebendster Kräfte vor sich. Im Zentrum: Franz, der heimliche Patriarch.

Es gibt die sorgsam und im Stil der Zeit arrangierten Fotos aus den Prager Studios. Und es gibt ein Arrangement des Blicks, das Kafka selbst vornimmt. Wenn er Bilder von sich an Freunde und Verwandte verschickt, schreibt er Kommentare dazu. Er erklärt der Verlobten Felice Bauer, dass sein fünfjähriges Ich die böse Miene für ein exotisch dekoriertes Foto nur gespielt habe, aber wahrscheinlich sei sie in einem tieferen Sinn auch wahr, sei ein «geheimer Ernst».

Ebenfalls an Felice schreibt er über die Wirkung des Blitzlichts, das ihm einen «visionären Blick» gebe. Es übersteigt das normale Mass der Eitelkeit, wie sehr Kafka die Fotografie als Konkurrenzmedium der Selbstdarstellung sieht. Ob aus der Mode gekommene Stehkrägen, schiefe Schultern, abgenutzte Sakkos, immer wird er sagen: Ja, das bin ich. Aber so bin ich nicht!

Eigentlich berührend an der ohnehin nah am Sentimentalen gebauten Berliner Ausstellung ist der Graben zwischen Ich und Welt, eine zentrifugale Kraft, die den Schriftsteller wie von selbst aus den Dutzenden Familienbildern hinauszuretuschieren scheint. Kaum jemals ist er im Kreis der anderen zu sehen. Berühmt ist das Bild mit Kafkas Lieblingsschwester Ottla, das nach 1915 auf dem Altstädter Ring in Prag aufgenommen worden sein muss. Ottla und Franz, der an einer Säule lehnt, schauen gegen die Sonne. Vielleicht kommt es nur vom blendenden Licht, dass der Bruder aussieht, als würde er lächeln.

Neben den Orgien des Aufwands, den die Prager Fotografen bei ihren Porträtbildern treiben, gibt es kuriose Schnappschüsse von Kafka. 1913 wird das bekannte Bild am Lido di Venezia gemacht. Der Erwachsene wie ein scheues, aber glückliches Kind in der Badehose. An Kafkas 29. Geburtstag entsteht im Garten des Weimarer Goethehauses ein Foto von obstruktivem Raffinement. Ein Kiesweg und Rosensträucher ohne Ende. Ganz hinten, winzig klein und auf einer Bank kaum erkennbar: Der Autor mit der Hausmeistertochter des Goetheschen Anwesens. «Sie ist immer ganz zittrig von Bewegung, bewegt sich aber erst, wenn man zu ihr spricht», notiert Kafka in der Phase einer kleinen Verliebtheit.

Franz Kafka mit seinen Schwestern Valli (links) und Elli (Mitte), um 1893.

Archiv Klaus Wagenbach

Hinkender Teufel

Dass Kafka sein Werk in der Dunkelkammer seines Herzens schreibt, ist nicht nur ein von ihm selbst erzeugtes Klischee. Draussen, oft nur durch seine Zimmertür von ihm getrennt, findet im hellen Licht des Alltags ein ausgewachsenes Familienleben statt. Die Wohnung der Eltern ist Anlaufstelle sich balgender Nichten und Neffen. Die Kafkas und Löwys haben schillernde Verwandte in Paris, Madrid, Paraguay und Belgisch-Kongo.

Im mährischen Triesch lebt das Vorbild für Kafkas Landarzt, der Onkel Siegfried Löwy, den man auf einem Foto mit Kafkas Nichten und Neffen auf dem Motorrad sieht. Mitten im Wald. In Franzensbad ist Kafkas Vater Hermann zur Kur. Er steht stattlich zwischen übellaunigen anderen Kurgästen. «Wie ein König auf Reisen», schreibt sein Sohn.

An der Ostsee, wohin auch der schon lungenkranke Franz anreist, trifft sich die Familie Anfang der zwanziger Jahre. Unbeschwertheit und Ernst mischen sich in den Strandfotografien einer enorm gewachsenen Verwandtschaft, die den gedankenversunkenen Aussenseiter gewohnheitsgemäss stört.

Die schöpferische Nervosität Kafkas reagiert auf die Reize der Aussenwelt mit einem komplementären Furor. Wo Menschen beisammen sind, werden sie zur akustischen Zumutung. Und doch kann sich Kafka dem Sirenengesang um ihn spielender Kinder nicht entziehen. Er spielt vor ihnen den hinkenden Teufel und liebt sie auf seine Weise.

Friedrich Thieberger, ein Bekannter Kafkas, erinnert sich an eine Begegnung, bei der der düstere Kafka plötzlich eine Fotografie mit den Kindern seiner Schwester aus der Tasche zieht. Sein Blick wird ein anderer. Der ewige Sohn des Vaters bekommt etwas Väterliches, und es scheint, dass Familie doch kein leeres Wort ist.

Das letzte Foto Franz Kafkas ist in der Berliner Ausstellung auch zu sehen. Es zeigt den hohlwangigen Schriftsteller und entstand im Oktober 1923 in einem Berliner Passbildautomaten. Weit ist der Schriftsteller nicht mehr gereist. Er starb am 3. Juni 1924 im niederösterreichischen Kierling. Die Familie konnte sich an seinem Totenbett nicht mehr versammeln.

Das Fotoalbum der Familie Kafka. Stabi Kulturwerk, Berlin. Bis 2. Juni. Als Katalog: Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Zusammengestellt und mit einer Einführung von Hans-Gerd Koch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024. 208 S., Fr. 51.90.

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