Generalleutnant a. D. Brauß: "Die NATO ist zweifelsohne unter Druck"

9 Mär 2024

Was passiert mit der NATO, wenn Donald Trump noch einmal Präsident werden sollte? Klar ist, dass auch die meisten Republikaner um den Wert des Verteidigungsbündnisses wissen. Warum das so wichtig für die Amerikaner ist und welche Rolle Deutschland darin spielt, erklärt Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß im Interview mit ntv.de. Brauß arbeitet heute bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zur Sicherheitspolitik.

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ntv.de: In den USA zeigt Donald Trump keine Leidenschaft für die NATO. Ist das Bündnis, immerhin die mächtigste Militärallianz aller Zeiten, in Gefahr?

Heinrich Brauß: Die NATO ist zweifelsohne unter Druck. Aber dies liegt an Putins verbrecherischem Angriffskrieg gegen die Ukraine und seinen imperialistischen Zielen. Nach langen Jahren Konzentration der auf internationales Krisenmanagement bei gleichzeitiger Abrüstung, vor allem in Deutschland, muss die Allianz in kurzer Zeit wieder verteidigungsbereit gegen Russland werden. Das ist eine große Herausforderung. Wenn man mit sicherheitspolitisch kompetenten Amerikanern spricht, bestätigen eigentlich alle, wie wichtig die NATO gerade auch für die USA ist.

Auch bei den Republikanern?

Generalleutnant a. D. Brauß arbeitet bei der DGAP zu Er arbeitet zur Entwicklung der NATO, zur europäischen Sicherheit und Kooperation zwischen NATO und EU.

(Foto: Brauß)

Dies gilt auch für Vertreter der Republikanischen Partei. Sie hat in der Vergangenheit große Präsidenten und NATO-Unterstützer hervorgebracht, denken Sie nur an die Präsidenten Ronald Reagan oder George Bush Senior. Mit Trump würde dies anders. Die strategisch denkenden Amerikaner aber wissen, dass Bündnisse mit anderen Demokratien Grundlage ihrer Stärke als Weltmacht sind und dass ihre Sicherheit auch davon abhängt, dass sie Zugang zu ihren Gegenküsten haben.

Also Europa und Ostasien, die Küsten auf der anderen Seite der Ozeane. Warum ist das wichtig?

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Ein Blick auf den Globus zeigt, dass die USA, praktisch wie eine riesige Insel, von zwei Ozeanen umgeben sind, dem Nordatlantik und dem Indo-Pazifik. Als die Weltmacht, die sie nun einmal sind, und als Welthandelsmacht sind sie darauf angewiesen, dass die globalen Seewege, Meerengen und Handelsrouten offen bleiben. Das liegt auch im wirtschaftlichen Interesse Europas. Dafür brauchen die USA aber möglichst viele Verbündete in den jeweiligen Regionen und müssen dort auch selbst Fuß fassen, um von dort auf kurzen Wegen militärische Macht in Krisenregionen projizieren oder bedrohten Verbündeten rasch zur Hilfe eilen zu können.

Das klingt nach Kaltem Krieg.

Ja und nein. Im Kalten Krieg war die Sowjetunion der Hauptgegner. Der Schwerpunkt amerikanischer Präsenz lag in Europa. Mit dem Auftreten der kleinen und großen Autokraten in Russland, China und dem Nahen Osten müssen die USA heute in zahlreichen Regionen gleichzeitig präsent sein. Aber auch ihre Ressourcen sind begrenzt. Die USA brauchen daher Alliierte in den Weltregionen, um nach wie vor als globale Welt- und Ordnungsmacht präsent sein zu können und glaubwürdige strategische Wirkung auszuüben.

Weil selbst die größte Supermacht nicht alles allein machen kann?

So ist es. Beispiel Naher Osten: Die USA fungieren dort vor allem als Schutzmacht Israels, das dort praktisch von allen Seiten bedroht ist, der Terrororganisation Hamas im Gaza-Streifen, der Hisbollah im Libanon und dem Iran, zu dessen Staatsdoktrin die Vernichtung Israels gehört. Aber es geht auch um die Konkurrenz zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran. Um den Schutz der Schifffahrtsrouten im Persischen Golf, im Golf von Aden und im Roten Meer. Der Iran liefert Waffen nach Russland, China will ebenfalls Einfluss im Nahen Osten gewinnen. Beide wollen die USA dort binden und ablenken. China vom Schutz Taiwans, Russland von der Unterstützung der Ukraine. Man spricht daher von einer "Konkurrenz der Kriege".

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Hinzu kommt die Lage rund um China.

Die Lage im Indo-Pazifik kann sich schnell verschärfen. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat angekündigt, dass er Taiwan "in einigen Jahren" wieder China einverleiben will, "notfalls mit Gewalt". Die Demokratien in der Region, von Australien bis Japan, sind alarmiert und hoffen auf amerikanische Präsenz und Hilfe, um China und dessen Machtansprüche dort einzudämmen. Die Amerikaner sind jetzt schon dort mit 300.000 Soldaten präsent, in Europa mit 100.000.

Schon Obama sagte, die USA wollten sich stärker Richtung Pazifik orientieren, weg von Europa.

Die USA sehen in China als ideologische, wirtschaftliche, technologische und militärische Großmacht auf mittlere Sicht ihren Hauptgegner, einen "systemischen Rivalen". Für sie liegt das sogenannte strategische Gravitationszentrum daher im Indo-Pazifik. In einer Krise würden sie ihre militärische Präsenz dort massiv erhöhen. Dann stünden zahlreiche Verbände und Systeme, die heute noch für Europa eingeplant sind, nicht mehr hier zur Verfügung. Das ist der Grund, warum die Europäer mehr für die Verteidigung Europas tun und die USA hier militärisch entlasten müssen, damit sie auf lange Sicht hier bleiben.

Welche Rolle spielen die Deutschen dabei?

Heute sind wir, bildlich gesprochen, der Auflagepunkt der transatlantischen Brücke in der Mitte Europas. Die Amerikaner setzen auf uns. Wir hätten das Potenzial, zusammen mit anderen Europäern, vor allem auch denen im Osten, den "europäischen Pfeiler" so zu stärken, dass es zu einer fairen Lastenteilung kommt. Dazu muss die Bundeswehr so schnell wie möglich voll einsatzfähig werden.

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Kann sich Deutschland das wirklich leisten?

Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Putins Gewalt, sein brutaler Eroberungskrieg, seine imperialen Ziele und nuklearen Drohungen - man kann sie ja nahezu täglich aus Moskau hören - bedrohen die Existenz der Ukraine, aber auch die Sicherheit unserer Verbündeten im Osten und daher unsere eigene, vielleicht mehr als die Sowjetunion im Kalten Krieg. Damals hat die westdeutsche Bundesrepublik weit mehr für die Sicherheit des Westens aufgebracht. Die Bundeswehr umfasste fast 500.000 Mann. Wir hatten beispielsweise drei Armeekorps, heute gerade einmal drei Divisionen. Die Wehrpflicht sorgte für eine große Mobilmachungsreserve. Unser Verteidigungshaushalt lag unter Bundeskanzler Willy Brandt bei 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Bundesrepublik war aus amerikanischer Sicht ihr Hauptpartner. Wir genossen größtes Vertrauen. Helmut Schmidt als Kanzler und Manfred Wörner als NATO-Generalsekretär waren in Amerika und Europa hoch angesehen.

Nach der Wende kam dann die größte Abrüstung in Deutschland. Die geringeren Ausgaben nannte man "Friedensdividende", es hieß, wir seien von Freunden umzingelt.

Fairerweise muss man darauf hinweisen, dass alle NATO-Partner ihre Streitkräfte reduzierten, manche noch mehr als wir. Nach dem friedlichen Ende des Kalten Kriegs, der Deutschen Einheit, dem Zerfall des Warschauer Pakts, dem Ende der Sowjetunion, mit der Öffnung der NATO für neue Mitglieder aus Mittelosteuropa und neuer Partnerschaft mit Russland und anderen ehemaligen Gegnern glaubte die gesamte NATO an ein neues Zeitalter, besonders wir Deutsche. Berlin engagierte sich damals (unter Bundeskanzler Helmut Kohl) an führender Stelle für die Neugestaltung der NATO und der europäischen Sicherheitsordnung. Wir haben das Konzept für die NATO-Erweiterung mitentwickelt - strategisch gesehen ein großer Schritt für die sicherheitspolitische Konsolidierung ganz Europas. Und wir waren Taktgeber für den parallelen Aufbau neuer Partnerschaften mit Russland und der Ukraine. Der Gleichschritt von Deutschland und den USA war damals beispielhaft und tempogebend.

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Trotzdem wuchs in der deutschen Öffentlichkeit die Ablehnung, zum Beispiel gegen den Irak-Krieg von Präsident George W. Bush. In den USA wuchs der Unmut darüber, dass die Deutschen nicht mitzogen und sich in Afghanistan eher als Entwicklungshelfer in Uniform gerierten.

Ich würde Ihnen zustimmen, dass wir uns mitunter, sagen wir, unglücklich verhalten haben. Wir brauchen lange für Entscheidungen und neigen nicht dazu, an vorderster Front zu stehen. Manche Verbündete nehmen dies schulterzuckend hin, verstehen uns aber kaum. Ein Beispiel: der Einsatz der Fregatte Hessen im Roten Meer. Die Bedrohung gibt es schon eine ganze Weile, und die Amerikaner sind längst da. Wir brauchten dagegen erst ein Mandat der EU, damit der Bundestag die Entsendung eines Schiffs beschließen konnte. Allerdings haben auch wir auf dem Balkan und in Afghanistan viele Opfer an gefallenen und versehrten Soldaten zu beklagen. Und schließlich muss man aber auch von den Verbündeten verlangen, dass sie unsere spezifischen, historisch-politischen Gründe akzeptieren. Eine Lehre aus dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg ist der Parlamentsvorbehalt, was den Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland betrifft. Nur der Bundestag kann die Bundeswehr entsenden, nicht der Bundeskanzler - etwa wie der französische Präsident.

Ist in der NATO das Ungleichgewicht bei der Lastenteilung angelegt? Müssen die USA stärkste Kraft sein, um den größten Einfluss zu behalten?

In der NATO besteht die Vereinbarung zwischen Amerikanern und Europäern, dass kein Verbündeter mehr als 50 Prozent der Fähigkeiten stellen muss, die die NATO für ihre Aufgaben braucht. Die USA mit 330 Millionen Einwohnern und einem etwas höheren BIP als die EU mit 450 Millionen Einwohnern haben ungefähr 50 Prozent der militärischen Lasten in der NATO zu tragen. Das empfinden die Amerikaner auch als fair. Es kommt aber darauf an, dass die Europäer und Kanadier die anderen 50 Prozent auch wirklich erfüllen. Dabei geht es nicht nur um die jährlichen Verteidigungsausgaben von mindestens zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, sondern vor allem auch um die Erfüllung der NATO-Streitkräfteziele. Wir Deutsche waren bisher leider schlecht darin, diese Ziele zu erfüllen. Wenn wir es endlich schaffen, dass die Europäer in der NATO 50 Prozent der militärischen Fähigkeiten stellen, hätten wir sehr viel erreicht. Das würde die Amerikaner wirklich entlasten und auch von ihnen gewürdigt werden.

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Reichen dafür zwei Prozent?

Ich fürchte nicht. Erstmals seit 30 Jahren werden in den NATO-Stäben die militärischen Fähigkeitsziele aus konkreten Operationsplänen für die kollektive Verteidigung des gesamten Bündnisterritoriums abgeleitet - plus Cyber-Abwehr, Resilienz und moderne Technologie. Die Streitkräfte, vor allem der meisten Europäer müssen also kriegstüchtig werden. Der anteilige Beitrag Deutschlands zum Potential der NATO wird also größer, nicht zuletzt weil wir die stärkste europäische Wirtschaftsmacht sind. Ich vermute, die Rückkehr der Bundeswehr zu Landes- und Bündnisverteidigung wird also zu einem quantitativen und qualitativen Anstieg der NATO-Streitkräfteziele für uns führen. Zugleich müssen weiter die Lücken geschlossen werden, die über die fortgesetzten Einsparungen in der Vergangenheit entstanden sind. Und die Ukraine muss weiter massiv unterstützt werden. Verteidigungsminister Pistorius hat bereits angedeutet, dass möglicherweise 3 bis 3,5 Prozent notwendig werden. Ich glaube, er liegt richtig. Polen liegt bereits bei 4,2 Prozent, Estland bei 3,1.

Also zurück in die 80er.

In gewisser Weise. Ich scheue mich aber davor, von einem Kalten Krieg 2.0 zu sprechen, weil der an eine Epoche gebunden war, die so nicht wiederkommt. Aber was die Grundsätze, auch das strategische Denken und damit die Planung der Verteidigung und den Einsatz von Streitkräften betrifft, kommt alles in etwa wieder. Und zwar aus militärischer Sicht als größere Herausforderung. Das Bündnisterritorium ist größer, die Grenzen zu Russland länger, die Aufmarschentfernungen sind viel größer. Die Streitkräfte aber, die für kollektive Verteidigung zur Verfügung stehen, sind (derzeit noch) vergleichsweise viel geringer. Aber die Notwendigkeit eines anspruchsvollen Verteidigungs- und Abschreckungsdispositivs wird weit in die Zukunft reichen.

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Mit Heinrich Brauß sprach Volker Petersen

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