Ein deutscher oder ein jüdischer Schriftsteller?

26 Tage vor
Franz Kafka (1916) Foto: picture alliance / opale.photo

In der internationalen Debatte zum Jerusalemer Kafka-Prozess ging es nicht nur um die Frage auf das Recht an seinen Manuskripten, sondern mehr noch um die Zuordnung des Autors zu Kulturräumen: Gehört Kafka als deutscher Schriftsteller nach Marbach, in das Heiligtum der deutschen Literatur, oder nach Jerusalem in die jüdische National­bibliothek?

Kafka - Figure 1
Foto Jüdische Allgemeine

Politisch betrachtet hat Deutschland keinerlei Rechtsanspruch, denn Kafka lebte im kakanischen Prag – nur sehr kurz in Berlin. Schwerer wiegt, dass Kafka wie seine gesamte Familie in der Schoa ermordet worden wäre, während die zionistische Heimstätte für seine Manuskripte wie für deren Retter, Max Brod, zum einzigen Zufluchtsort wurde. 2016 entschied Israels Oberster Gerichtshof, dass der Brod-Nachlass mit den Kafka-Papieren an die Nationalbibliothek in Jerusalem gehen und dort digitalisiert werden soll.

Doch bleibt die andere Frage: Ist Kafka kulturell gesehen ein deutscher oder ein jüdischer Schriftsteller? Die Antwort von Gershom Scholem, dem Begründer der modernen Kabbala-Forschung, war eindeutig: Er betrachtete das Werk Kafkas, die Hebräische Bibel und den Sohar als die drei kanonischen Texte des Judentums schlechthin, wobei er Kafka ausschließlich der jüdischen Literaturgeschichte zuordnete, keinesfalls der deutschen.

»Mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters«

Kafka selbst meinte: »Weg vom Judentum (…) wollten die meisten (Juden), die Deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. (…) Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien.« Also jüdische Literatur in deutschem Kostüm!

Diese Einschätzung Kafkas lässt sich auch an vielen seiner eigenen Texte bestätigen. Allerdings hat er seine jüdischen Themen aus der »Synagoge« in ein westeuropäisch bürgerliches Stadtmilieu verpflanzt und damit bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Wer dies, trotz des eindeutigen Befundes der Tagebücher und Briefe, nicht erkennen wollte, hat jegliche judaistische Kafka-Deutung – oft mit geradezu antijüdischen Untertönen – abgelehnt. Es ist allein die Kenntnis der jüdischen Tradition und Befindlichkeiten, welche die Wahrnehmung des jüdischen Schriftstellers Kafka ermöglicht.

Franz Kafka kennt die Bedeutung des Schabbats, wiewohl er ihn stets mit »Samstag« benennt.

Aber natürlich war Kafka zugleich ein kulturell europäischer Jude, was verbietet, jedem seiner Texte ein jüdisches Gewand umzuhängen. Andererseits war aber gerade seine intensive Hinwendung zum Judentum eine von ihm selbst bezeugte wesentliche Kraft zur Befreiung von der Übermacht seines Vaters und der Stärkung der eigenen Persönlichkeit.

Kafka, der assimilierte West-Jude, litt an dem ausgedünnten bürgerlichen Judentum seiner Familie. Schmerzhaft empfand er dies während der Begegnung mit der jiddischen Schauspielertruppe aus dem Osten und ihren Aufführungen, die er mit starker innerer Bewegung besuchte und deren jiddische Lieder er sogar mitsang.

In diesen Tagen wurde ihm sogar seine deutsche Sprache fremd, was in seinem fast verstörenden Tagebucheintrag zum Ausdruck kommt: »Gestern fiel mir ein, daß ich die Mutter nur deshalb nicht immer so geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine ›Mutter‹, die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch (…) wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt. ›Mutter‹ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch, sondern fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht ›Mutter‹ sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Getto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht.«

Die Tagebücher zeigen einen Mann, der fast ausschließlich in jüdischen Kreisen verkehrt

Kafka beschreibt hier das, was sein gesamtes Werk betrifft und was dem aufmerksamen Leser im Vergleich seiner Tagebücher und Briefe mit seinen literarischen Texten auffällt. Die Tagebücher zeigen einen Mann, der fast ausschließlich in jüdischen Kreisen verkehrt, der die Feiertage kennt und sie zusammen mit seiner Familie einhält – bis zum Fasten an Jom Kippur.

Kafka kennt die Bedeutung des Schabbats, wiewohl er ihn stets mit »Samstag« benennt – auch dies ein Indiz seiner westjüdischen Unsicherheit, gegen die er andererseits heftig ankämpft. Er lässt sich durch die jiddischen Schauspieler und ihre Stücke belehren, notiert jüdische Geschichten, Begriffe und Interna, debattiert über den Zionismus, über Gott und Judentum – kurz, ein ganz und gar jüdisches Tagebuch, das sich aber zugleich in den deutschen Literaturkanon vertieft.

Und nun der Schritt zu seiner Literatur, dort ist alles deutsch, das Jüdische ist abgestreift und – außer in den Aphorismen – mit kaum einem Wort zu entdecken. Aber der Mensch Kafka ist doch derselbe geblieben. So wie er die jüdische Mame »Mutter« nennt, so schreibt er jüdische Literatur in deutscher Sprache mit all den genannten Konsequenzen.

Das deutlichste Echo dieses Judeseins zeigt sich am zentralen Thema der Kafkaschen Produktion, an der Vorstellung vom menschlichen Leben als Prozess und der fortwährenden Notwendigkeit der Sühne und Rechtfertigung vor einer höheren Ins­tanz, deren Institutionen sich bis in den menschlich-irdischen Alltag erstrecken, oder die – so der Skeptiker Kafka – gar hier unten ihren ausschließlichen Ort hat.

Diese Gegenwart der Gerichtsinstanz entfaltete ihre nachhaltigste Macht auf Kafka und sein Schreiben an den jüdischen Herbstfeiertagen. Diese Tage des himmlischen Gerichts über alle Menschen haben Kafka stets »stark hergenommen«, wie er in seinem Tagebuch vermerkt. Und es waren diese Tage, in denen er in mehreren Jahren seine bedeutendsten Texte schuf, den Roman Der Prozess, die Erzählungen Das Urteil, In der Strafkolonie und Die Verwandlung, allesamt Erzählungen von Schuld, Sühne und Rechtfertigung des Menschen.

Für Kafka war das Schreiben, wie er immer wieder betont, die einzige Sinngebung für sein Leben. So ist es nicht verwunderlich, wenn er unter dem Eindruck gerade dieser »furchterregenden Tage« seine Arbeit am Prozess so kommentierte: »Ich schreibe seit paar Tagen, möchte es sich halten. So ganz geschützt und in Arbeit eingekrochen, wie es vor zwei Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung.« Mit dieser Rechtfertigung tritt er selbst vor den Richter, den auch sein Held Josef K. nie gesehen hat.

An Jom Kippur hörte er Predigten, die seinen Roman »Der Prozess« bis in die Struktur prägten.

Bei seinen Synagogenbesuchen an Jom Kippur, an dessen Ende »selbst der schlimmste Jud nicht ins Theater« geht, hörte Kafka Predigten, die seinen Roman bis hinein in dessen Struktur prägten, ebenso dessen typische Motive, die mehrheitlich der kabbalistischen Gerichts-Mythologie entstammen: Die Auffassung, dass alles, die ganze irdische Realität zum Gericht gehört, der Schmutz der Gerichtsstuben auf den Dachböden, die sexuellen Verführungen, die zwielichtigen Frauen und Advokaten, ebenso, dass das gesamte menschliche Leben ein fortwährender Prozess ist, dass man das Gesetz und die Klageschrift nicht kennt, es Freisprüche nur laut alten Legenden gab und ansonsten nur vorläufige Freisprechungen, dass es deshalb nötig ist, das Bekenntnis abzulegen, um entschlüpfen zu können, und schließlich die bizarre Verhaftung und die Hinrichtung genau nach einem Jahr.

Ein kabbalistisches Element seiner Erzählungen: viele merkwürdige Tiergeschichten

Ein weiteres auffälliges Requisit in Kafkas Erzählungen, das zahllose widersprüchliche Deutungen hervorgebracht hat, sind die vielen merkwürdigen Tiergeschichten. Auch hier griff Kafka ein kabbalistisches Element auf, das in Volkserzählungen weite Verbreitung fand und ihm nachweislich bekannt war, nämlich die Lehre von der Seelenwanderung. Darüber erfuhr er unter anderem von seinem Freund Jizchak Löwy, dem Schauspieler der jiddischen Theatertruppe, ebenso von seinem chassidischen Freund Georg Jirí Langer und nicht zuletzt von den »chassidischen Geschichten (…) alle diese Geschichten sind, ich verstehe es nicht, das einzige Jüdische, in welchem ich mich, unabhängig von meiner Verfassung, gleich und immer zuhause fühle«.

In diesen Geschichten leben Menschen vor allem in Tierleibern und gehören deshalb weder zur Tier- noch zur Menschenwelt. Thema dieser Erzählungen ist gleichfalls das himmlische Gericht, die Sünde und die Sühne – bei Kafka wieder unter Verfremdung im europäisch-säkularen Kostüm. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist die Geschichte vom Katzenlamm, dem alten Erbstück vom Vater, das sich lieber an die Menschen hält, auch Tränen vergießt und für das vielleicht das Messer des Fleischers die Erlösung bringt. Das ist laut der Kabbala die erlösende Sühnehandlung und die Tilgung einer geerbten Schuld.

Aber auch die Fremdheit des Juden in einer antisemitischen Umwelt ist ein Thema, das in vielen Texten Kafkas verarbeitet ist. Die Antwort auf die Eingangsfrage lautet deshalb: Kafkas Werk gehört zur deutschen Literatur nur als jüdisch-deutsche Literatur – so wie das Judentum zur deutschen Kultur gehört.

Der Autor ist Judaist und Religionswissenschaftler.

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