Berlinale-Eröffnungsfilm „Small Things Like These“ mit Cillian ...

16 Feb 2024

Der Blick ist verwaschen, wie durch die Windschutzscheibe von Bill Furlongs Transporter. Blasse Farben, weiche Konturen und hier und da ein schmelzender Lichtschimmer. Kein Wunder, dass der Scheibenwischer nicht gegen das irische Nieselwetter in der Vorweihnachtszeit 1985 ankommt. Das Gefährt ist ein Oldtimer und die Luft ist nicht nur nass wie eine vollgeschwitzte Socke, sondern dreckig vom Kohlestaub und vom Ruß aus den Schornsteinen.

Cillian Murphy - Figure 1
Foto Berliner Zeitung

Hinzu kommt eine soziale Kälte, die mit moralisch religiöser Strenge und patriarchischen Strukturen einhergeht. Die irische Schriftstellerin Claire Keegan fasst es mit dem schönsten Satz ihres kleinen Romans „Small Things Like These“ (Kleine Dinge wie diese) so zusammen: „Und dann kamen die Nächte, und wieder hatte der Frost alles im Griff, und seine kalten Klingen schoben sich unter den Türen hindurch und schnitten denen, die noch den Rosenkranz beteten, die Knie ab.“ Ein gutes Beispiel für sprachliche Bilder, die sich für eine direkte Visualisierung kaum empfehlen.

Star-Bedarf und Glamourverweigerung

Das Buch ist die Vorlage des gleichnamigen Berlinale-Eröffnungsfilms. Der Kohlenhändler Bill wird gespielt von Cillian Murphy, dem „Peaky Blinders“-Star, der zuletzt mit der Titelrolle in „Oppenheimer“ für einen Oscar nominiert wurde und Starruhm einheimste. Starruhm, um den die Berlinale so chancenarm gegen Festivals konkurriert, bei denen nicht nur das Promenierwetter für bessere Laune sorgt. Nichts gegen eine historische Sozialelegie in gediegener Optik, aber ist das der Tusch, mit dem man die Filmkunst feiert? Vielleicht typisch für das Chatrian-Rissenbeek-Konzept der Glamourverweigerung bei gleichzeitigem Star-Bedarf.

Cillian Murphy - Figure 2
Foto Berliner Zeitung

Als subversiven Akt könnte man es vielleicht sogar gutheißen, wenn man gesellschaftliche und soziale Missstände thematisiert, die in Irland bis in die 1990er-Jahre herrschten und tabuisiert wurden und unter deren Nachwirkungen noch Generationen zu leiden haben werden. Es geht um sogenannte Magdalenen-Wäschereien, katholische Besserungsanstalten, in denen unverheiratet schwanger gewordene Frauen eingesperrt wurden und Zwangsarbeit verrichten mussten. Ihre Kinder wurden an Adoptiveltern verkauft, wenn sie nicht umkamen. Laut einem Befund der Historikerin Catherine Corless aus dem Jahr 2014, den Keegan in ihrem Buch zitiert, sind zwischen 1925 und 1961 allein im Heim in Tuam, Grafschaft Galway, 796 Babys gestorben. 

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Ein abstinenter Ire

Es ist ein vertüftelter und zweifelhaft paternalistischer literarischer Kniff, dass Keegan ausgerechnet aus der Perspektive eines Vaters auf diese menschliche Katastrophe blickt, sich für die Opfer eher am Rande interessiert und sie zur Kulisse einer Charakterstudie macht: Bill Furlong ist ein seltenes Exemplar von Mann, nicht nur in Irland: „Er hatte einen ausgeprägten Geschäftssinn und war bekannt dafür, mit jedermann gut auszukommen und verlässlich zu sein, denn er hatte gute protestantische Gewohnheiten entwickelt, stand gerne früh auf und fand an Alkohol keinen Geschmack.“

Cillian Murphy - Figure 3
Foto Berliner Zeitung

Dieser unanfechtbare Schmerzensmann hat selbst fünf Töchter, von denen mindestens zwei das fruchtbare Alter erreicht haben. Außer, dass sie fleißig Hausaufgaben machen, anständig und bescheiden sind, erfahren wir nichts über diese Nebenfiguren, die die Frauen in den Anstalten spiegeln sollen und den Vater empfänglich machen für deren Situation. Auch diese Frauen erhalten in dem Roman keine Kontur. 

Dafür dürfen wir tief in die Seele Bills gucken, der selbst die Frucht einer illegitimen Beziehung ist, seinen Vater nicht kennt und seine Mutter an den Tod verliert, als er zwölf ist. Aufgewachsen ist er bei seiner protestantischen Gönnerin, in deren Haus seine Mutter angestellt war. Einmal erwischen wir den kleinen Bill bei einer Charakterschwäche: Als er zu Weihnachten nicht das gewünschte 500-Teile-Puzzle, sondern eine Wärmflasche bekommt, muss er an die frische Winterluft gehen, um seine Wut und Enttäuschung abzukühlen.

Emiliy Watson in der Rolle der Bösen

Was bei dem Roman schon an den Kitschnerven kitzelt, wird in dem von Tim Mielants inszenierten Film ungeniert ausgespielt. Das Werk besteht zu grob geschätzt 80 Prozent aus Cillian-Murphy-Großaufnahmen. Die karrierefördernd blauen Augen leuchten umso reiner, wenn das Gesicht mit Kohlestaub und Melancholie bedeckt ist. Alles, was er tut, ist von moralischer Erhabenheit: Wie er dem armen Jungen Kleingeld in die Hand drückt, wie er beim Pub die Straßenseite wechselt, wie sein warmgehaltenes Abendessen im Beisein der Töchter einnimmt – Händewaschen nicht vergessen! – und angesichts des Kirchenchores doch noch die Kraft für ein Lächeln findet. Es gehört zu seiner redlichen Charakterstruktur, dass er dennoch von seinem schlechten Gewissen geplagt wird. Kann es sein, dass eine solche Plage die der Frauen in den Wäschereien noch übertrifft?

Cillian Murphy - Figure 4
Foto Berliner Zeitung

Ebenso eindimensional ist die Rolle der Bösen im Habit der Oberin, gespielt von Emily Watson. Ihr eisernes puppenhaftes Mildtätigkeitslächeln rührt an tiefsitzende frühkindliche Ängste. Ein bisschen glüht noch immer die religiöse Verrückung nach, die Watson in Lars von Triers „Breaking the Waves“ 1997 berühmt machte. Etwas Zwiespältigkeit ist allein Bills Frau Eileen (Eileen Walsh) gestattet, die keine Lust auf Ärger mit den Nonnen hat, von Bills Trübsinn sichtlich genervt ist und ihm sein zu weiches Herz vorwirft. Die Frau, sie ist noch nicht ganz reif für die Rettung durch den neuen sanften Mann. Aber schöne Augen hat er.

Berlinale Wettbewerb: „Small Things Like These“ (Kleine Dinge wie diese) 15., 16., 18. Februar auf der Berlinale, Kinos und Tickets auf www.berlinale.de

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