Ukraine: Kachowka-Staudamm zerstört – was wir wissen und was ...

7 Jun 2023

Ukraine-Krieg Zerstörter Kachowka-Staudamm am Dnipro – was wir wissen und was nicht

Staudamm Ukraine: Kachowka - Figure 1
Foto STERN.de

Dieses Satellitenbild zeigt die Schäden am Kachowka-Damm im Süden der Ukraine

© Satellite image / 2023 Maxar Technologies / DPA

Der Kachowka-Staudamm am Dnipro wurde zerstört, 18 Kubikkilometer Wasser haben eine ganze Region überflutet. Wer steckt hinter dem Vorfall und was sind die Folgen für den Krieg und die Menschen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Inhaltsverzeichnis Was wir wissen Was wir nicht wissen

In dem seit mehr als 15 Monaten andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und des angrenzenden Wasserkraftwerks ein weiterer fürchterlicher Tiefpunkt. Auch einen Tag nach dem dramatischen Vorfall sind noch viele Fragen offen.

Was wir wissen

Das Gebiet: Der Kachowka-Staudamm und das angrenzende Wasserkraftwerk liegen in der Stadt Nowa Kachowka in dem von Russland besetzten Teil der ukrainischen Region Cherson. Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar 2022 überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Die gleichnamige Gebietshauptstadt ist aber unter ukrainischer Kontrolle, Städte südlich des Dnipro wie Nowa Kachowka sind hingegen in russischer Hand. Der Fluss, der in dieser Gegend etwa die Frontlinie darstellt, wird in Nowa Kachowka zum sechsten und letzten Mal vor dem Schwarzen Meer auf 200 Kilometer Länge gestaut.

Die Verwüstungen: Nach einer schweren Explosion an dem wichtigen Staudamm ist auch das angrenzende Wasserkraftwerk nach Angaben beider Kriegsparteien betroffen. Der nahe der Kriegsfront gelegene und Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommene Staudamm ist zerstört, ebenso wie das Wasserkraftwerk. Vermutet wird, dass der Damm gesprengt wurde. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge soll sich die Detonation am frühen Dienstagmorgen gegen 2.50 Uhr Ortszeit (1.50 Uhr MESZ) zugetragen haben.

Die Vergangenheit: Schon lange wurde befürchtet, dass der Staudamm zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Denn es ist nicht das erste Mal, dass er im Ukraine-Krieg Ziel von Attacken wird. Im Herbst 2022 etwa hatten ukrainische Kräfte die Brücke über den Staudamm mit Präzisionsschlägen angegriffen und den russischen Nachschub gestört. Russische Truppen wiederum hatten bei Rückzügen mit kontrollierten Sprengungen weitere erhebliche Schäden angerichtet. Bald war die Brücke nicht mehr passierbar. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung Nowa Kachowkas ankündigten.

Staudamm Ukraine: Kachowka - Figure 2
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Das Atomkraftwerk: Für das am nördlichen Ende des Stausees gelegene Atomkraftwerk Saporischschja bestehe keine unmittelbare Gefahr, heißt es übereinstimmend von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und dem russischen Atomkonzern Rosenergoatom. Der IAEA zufolge werden aber in dem von Russland besetzten AKW Maßnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden. Verhindert werden muss, dass die Reaktorkerne und der Atommüll gefährlich überhitzen.

Was wir nicht wissen

Die Verantwortung: Moskau und Kiew weisen sich gegenseitig die Schuld an der Explosion zu. Während die Ukraine Russland Staatsterrorismus vorwirft und die Tat mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe vergleicht, beschuldigt Moskau ukrainische Truppen des Beschusses und einer vorsätzlichen Sabotage. Keine der beiden Seiten legte bislang Beweise vor. 

Die USA und Großbritannien äußerten sich zurückhaltend. In Washington sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, man könne die Lage noch nicht abschließend bewerten. "Wir versuchen weiter Informationen zu sammeln und mit den Ukrainern zu sprechen." Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak erklärte am späten Dienstagabend, er könne derzeit "nicht sagen, ob Vorsatz dahinter steckt". Es sei "zu früh", um ein "endgültiges Urteil" zu dem Dammbruch abzugeben.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf Moskau vor, immer stärker zivile Ziele anzugreifen. Für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt die Tat "einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine".

Kachowka-Staudamm

Zerstörung am Dnipro: "Die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten"

Das Motiv: Spekuliert wird, dass der Vorfall ein russischer Sabotageakt sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Moskau streitet das ab. Die Überschwemmungen betreffen besonders die von Russland besetzte Region südlich des Dnipro, die als ein Hauptziel eines solchen möglichen Vormarsches gilt. Im Zweiten Weltkrieg hatte der damalige russische Geheimdienst NKDW den Damm schon einmal gesprengt, um die Infrastruktur wegen der anrückenden deutschen Wehrmacht zu zerstören.

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Der Sicherheitsexperte Christian Mölling nannte es im stern-Podcast "Ukraine – die Lage" "extrem unwahrscheinlich", dass der Damm nicht von russischen Kräften attackiert worden sei. Möglicherweise sei das Kalkül der russischen Akteure, dass die Verzögerung einer ukrainischen Offensive höher zu bewerten sei als mögliche Nachteile. Er betonte zugleich: "Das ist eine Verzögerung, aber keine Verhinderung der Offensive."

Die Auswirkungen: Noch ist unklar, wie sehr die Überschwemmungen das Gebiet verwüsten. Weite Teile der flussabwärts des Damms gelegenen Gebiete am Ufer des Dnipro stehen bereits unter Wasser. Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, erklärte der stellvertretende Kabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Kuleba. Das Wasser in der rund 50 Kilometer Luftlinie flussabwärts gelegenen Stadt habe einen Stand von 3,5 Metern erreicht, mehr als 1000 Häuser seien überflutet. Ukrainische Behörden hatten am Dienstag die Evakuierung von rund 17.000 Menschen eingeleitet, auf der von Russland besetzten Seite sollten weitere 25.000 Anwohner in Sicherheit gebracht werden.

Wissenschaftler der Hochschule Magdeburg-Stendal haben in einer frühen Modellierung errechnet, dass 60.000 Menschen betroffen sein könnten, etwa ein Drittel davon gefährdet. Die EU sprach von Hunderttausenden Zivilisten, deren Leben gefährdet sei.

Die Umweltkatastrophe: Nach nicht unabhängig prüfbaren Angaben der ukrainischen Führung sind mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen. Auch Flora und Fauna werden stark in Mitleidenschaft gezogen.

Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, schreibt das Ministerium auf seiner Webseite. "Darüber hinaus wird die von Menschen verursachte Katastrophe die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen", so das Ministerium. "Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten", hieß es weiter. Zudem erwartet das Agrarministerium nach eigenen Angaben negative Folgen für die Fischerei.

Die Versorgung: Südlich gelegene Orte und auch die von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim könnte eine Knappheit bei der Wasserversorgung drohen, denn sie werden aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Das wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Möglicherweise wird auch die Getreideernte auf der Krim beeinträchtigt. Auch Ortschaften stromaufwärts könnten betroffen sein, wenn das riesige Wasserreservoir etwa für die Landwirtschaft fehlt. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks könnte zudem zu den Energieproblemen der Ukraine beitragen.

mad / Sebastian Fischer DPA

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