Kachowka-Staudamm gesprengt: Was bisher bekannt ist

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Erstellt: 06.06.2023Aktualisiert: 07.06.2023, 06:36 Uhr

Von: Jens Kiffmeier

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Überschwemmungen und Evakuierung: Die Sprengung vom Kachowka-Staudamm bedroht die Region Cherson. Wie schlimm ist die Lage? Alle Antworten im Überblick.

Cherson - Überschwemmungen, Evakuierungen und eine riesige Umweltkatastrophe im Ukraine-Krieg: Nach einer schweren Explosion an dem wichtigen Staudamm im Süden der Ukraine ist das angrenzende Wasserkraftwerk nach Angaben beider Kriegsparteien am Dienstag (6. Juni) zerstört worden. Der Staudamm Nowa Kachowka liegt im russisch besetzten Teil des Landes nahe der Front. Sowohl Russland als auch die Ukraine machten sich für die mutmaßliche Sprengung gegenseitig verantwortlich. Das ausströmende Wasser scheint nicht mehr kontrollierbar zu sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Und wie schlimm ist die Lage wirklich? Alle Fragen und Antworten im Überblick.

Sprengung Kachowka-Staudamm: Was bisher bekannt ist - alle Fragen und Antworten im Überblick

Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms scheint eine Reparatur des Kraftwerks „offensichtlich“ nicht mehr möglich. Das teilte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew im russischen Staatsfernsehen mit. Den Angaben zufolge wurde das Bauwerk auf der Hälfte seiner Länge zerstört und stürze immer weiter ein, meldete Russlands Nachrichtenagentur Tass am Morgen. Der 30 Meter hohe Damm, der 1956 am Fluss Dnjepr als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka gebaut wurde, war vor der Expolision 3,2 Kilometer lang.

Schieben sich nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms die Schuld zu: Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kremlchef Wladimir Putin.

Schieben sich nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms die Schuld zu: Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kremlchef Wladimir Putin. © Gavriil Grigorov/Andreea Alexandru/dpa/MontageBruch vom Kachowka-Staudamm in der Ukraine: Was bedeutet das für Cherson und die Krim?

Befürchtet wird, dass der Bruch des Staudamms in der umkämpften Region Cherson zu massiven Überschwemmungen führt. Nach Angaben der örtlichen Behörden leben etwa 16.000 Menschen in der „kritischen Zone“. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, binnen fünf Stunden könne der Wasserstand Schätzungen zufolge eine kritische Höhe von zwölf Metern erreichen. In einer ersten Reaktion wurden 300 Häuser evakuiert und mehrere Dörfer vorsorglich von der Stromversorgung abgeschnitten.

Bürgermeister Leontjew räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegene Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Auf Aufnahmen ist auch zu sehen, wie offenbar große Wassermengen aus der Mauer des Staudamms strömen. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Was hat der Kachowka-Staudamm mit dem AKW Saporischschja zu tun?

Die mutmaßliche Sprengung des südukrainischen Kachowka-Staudamms soll aber zunächst keine Auswirkungen auf den Betrieb des nordöstlich gelegenen Atomkraftwerks Saporischschja haben. Ersten Berichten zufolge sollte das Wasser des Kachowkaer Stausees auch für die Kühlung des AKW eine Rolle spielen. Doch die Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) gab erst einmal Entwarnung.

„IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau“, teilte die Behörde am Dienstagmorgen auf Twitter mit. „Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk.“ Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW - das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt - sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

Wer hat den Kachowka-Staudamm bei Cherson gesprengt?

Die genauen Hintergründe sind unklar. Die Vermutung ist: Der Damm wurde gesprengt. Doch Kiew und Moskau machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von „Terror“ und berief den nationalen Sicherheitsrat ein. Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden verantwortlich. Spekuliert wurde auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka. Immer wieder hatten die Ukrainer vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Besondere Beunruhigung herrschte, als die Besatzer im November die Evakuierung der Stadt ankündigten.

Seit Wochen wird nun auf eine großangelegte Gegenoffensive der Ukraine gegen die russischen Besatzer gewartet. Eigentlich hätte sie nach Einschätzung vieler Militärbeobachter bereits beginnen sollen. Doch dringend benötigte Waffensysteme aus dem Westen ließen lange auf sich warten. Außerdem machte das regnerische Wetter im Frühjahr den Planern wohl einen Strich durch die Rechnung. Dennoch ist die Sorge in Russlands Armee groß, dass der Vormarsch an der Frontlinie nun allmählich starten könnte.

Rückschlag für Gegenoffensive im Ukraine-Krieg: Überquerung des Dnepr jetzt kaum möglich

Vor diesem Hintergrund bedeutet die Sprengung des Staudamms für die Ukraine einen herben Rückschlag. Eine Gegenoffensive oder eine Überquerung des Dnepr an diesem Frontabschnitt durch die ukrainische Armee sei nun durch die Wassermassen „fast ausgeschlossen“, sagte der Militärexperte der Bundeswehr-Universität, Carlo Masala, im Gespräch mit der Welt.

Ähnlich äußerte sich der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen, schrieb er am Dienstag im Kurznachrichtendienst Twitter. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen.

Stellt die Sprengung des Kachowka-Staudamms ein Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg dar?

Angesichts der Überflutungen entbrannte am Dienstag auch eine Diskussion darüber, inwieweit eine mögliche Sprengung des Kachowka-Staudamms ein Kriegsverbrechen darstellt. Tschechiens Außenminister Jan Lipavsky warf Russlands Führung um Präsident Wladimir Putin vor, die Grenzen ihrer Aggression immer weiter zu verschieben.

„Der Angriff auf den Staudamm von Nowa Kachowka oberhalb von bewohnten Gebieten ist vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Zivilisten“, schrieb er auf Twitter. Solch ein brutales Vorgehen müsse bestraft werden. Da von der Sprengung nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten massenhaft betroffen seien, könne man durchaus von einem Kriegsverbrechen sprechen, sagte Masala. (jkf/mit Material der dpa)

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