Unglücksflug der Singapore Airlines: Wie Turbulenzen bei klarer ...

22 Mai 2024

Im Innern des Flugzeugs wurde alles durcheinandergewirbelt

Foto: REUTERS

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Singapore Airlines - Figure 1
Foto DER SPIEGEL

Gerade surrte das Flugzeug noch durch die Luft, dann sackt die Maschine plötzlich stark ab, schaukelt und ruckelt, die Crew melde sich: Bitte anschnallen, Turbulenzen! Die gehören auf Flügen zum Alltag. Doch sie können auch böse enden wie im Fall eines Fluges der Singapore Airlines am Dienstag auf dem Weg von London-Heathrow nach Singapur.

Was ist passiert?

Eine Boeing 777-300ER geriet über dem Indischen Ozean in schwere Turbulenzen. Viele der 211 Passagiere und 18 Crewmitglieder waren nicht angeschnallt, stießen sich an Gepäckfächern oder wurden durch herumfliegende Gegenstände verletzt. Ein 73-jähriger Brite starb, vermutlich an einem Herzinfarkt. Nach einer Notlandung in Bangkok befinden sich nach Angaben eines thailändischen Krankenhauses 71 Menschen in Behandlung, sieben mit schweren Verletzungen.

Wie oft kommen Turbulenzen vor?

Laut einer Studie der US-Transportsicherheitsbehörde  aus dem Jahr 2021 sind Turbulenzen die häufigste Unfallursache im Flugzeug. Sie sind für mehr als ein Drittel aller Unfälle verantwortlich, dabei wurden häufig Menschen verletzt, die Flugzeuge trugen aber keinen Schaden davon. Gefährdeter als Flugpassagiere sind übrigens Crewmitglieder, weil diese eher im Flugzeug herumlaufen und nicht auf ihrem Platz sitzen. So war es offenbar auch beim Flug der Singapore Airlines.

Es wurde berichtet, der Flieger sei um rund 2000 Meter abgesackt – ist das realistisch?

Dr. Thomas Gerz vom Institut für Physik der Atmosphäre am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt ist skeptisch, dass die Turbulenzen dafür verantwortlich waren. Denkbar sei, dass der Autopilot die Maschine infolge des Zwischenfalls allmählich auf eine geringere Flughöhe gesteuert hat, um weiteren Turbulenzen zu entgehen.

»Ein plötzlicher Verlust an Flughöhe von dieser Größenordnung kommt tatsächlich äußerst selten vor«, sagt er. Üblich sei bei schwachen bis mittelschweren Turbulenzen ein Absacken um wenige Meter, bei starken Turbulenzen bis zu einigen Hundert Metern. Laut dem Experten ist die Absenkhöhe aber gar nicht so entscheidend. »Es geht eher um den schnellen Wechsel von ruhigem zu unruhigem Flug.«

Was sind mögliche Ursachen für solche Turbulenzen?

Es gibt verschiedene mögliche Ursachen. Die gängigste: Gewitter. »Bei Wolken rechnet man immer mit Turbulenzen«, sagt Gerz. Die Pilotin oder der Pilot können entsprechend vorher Maßnahmen ergreifen: Das Gewitter umfliegen oder zumindest die Passagiere und Crew auffordern, sich hinzusetzen und anzuschnallen. Im vorliegenden Fall gab es offenbar aber keine Vorwarnung, es handelt sich vermutlich um eine »clear air turbulence«, eine Klarluft-Turbulenz.

Wie entsteht eine Klarluft-Turbulenz?

Eine Klarluft-Turbulenz ist besonders heikel, weil sie nicht mit bloßem Auge erkennbar und schwer vorherzusagen ist. »Nicht sichtbare Turbulenz tritt oft im Zusammenhang mit Gebirgszügen, am Rande des Jetstreams in den mittleren Breiten und in der Nähe von Gewittertürmen auf«, sagt Gerz. Im Detail bedeutet das:

Luftströme können an Gebirgszügen brechen wie Wellen im Wasser und so für viel Bewegung in der Luft sorgen, gewissermaßen eine unsichtbare Brandung.

Der Jetstream ist ein Starkwindband, das sich in etwa acht bis zwölf Kilometer Höhe von West nach Ost bewegt. An dessen Rändern bewegen sich Luftmassen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten – ebenfalls eine mögliche Ursache für Turbulenzen.

Auch die Auswirkungen von Auf- und Abwinden, die mit Gewittern auftreten, reichen oft viel weiter als die dunklen Unwetterwolken.

Welches Phänomen für das Absacken des Singapore-Airlines-Fliegers verantwortlich ist, lässt sich aber noch nicht abschätzen.

Sind Turbulenzen Luftlöcher?

Nein, das ist nur eine umgangssprachliche Beschreibung. »Ein Luftloch würde bedeuten, dass sich die Dichte abrupt ändert, dazu kommen aber immer auch dynamische Einflüsse, also Windströme«, sagt Gerz. Für Passagiere fühlt es sich vielleicht so an, als würde das Flugzeug in ein Loch fallen, doch tatsächlich fliegt es weiter.

Wie gefährdet ist ein Flugzeug durch Turbulenzen?

Nicht sehr. Flugzeuge sind dafür ausgelegt, dass sie diese Böen aushalten. Vielleicht biegen sich die Flügel etwas, aber das hält das Material aus. Das größte Problem sind Verletzungen bei den Menschen im Flugzeug, wenn diese nicht angeschnallt sind.

Welche Rolle spielt der Klimawandel, gibt es in Zukunft häufiger Turbulenzen?

Im vergangenen Jahr haben Wissenschaftler der englischen Universität Reading einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Klarluft-Turbulenzen und dem Klimawandel nachgewiesen. An einem typischen Punkt über dem Nordatlantik maßen sie eine Zunahme des Phänomens um bis zu 55 Prozent im Zeitraum zwischen 1979 und 2020. Auch auf anderen Flugrouten gebe es mehr Turbulenzen als vor einigen Jahren: »Bitte anschnallen! Klimawandel«, warnte der SPIEGEL bereits 2019 .

Lassen sich Turbulenzen vorhersagen?

Prognosen von durch Gewitter ausgelösten Turbulenzen sind gut möglich, bei Klarluft-Turbulenzen sieht es etwas anders aus. Zwar sei die Vorhersage von gefährlichen Gebieten in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden, sagt Thomas Gerz vom DLR. Doch oft gibt es für Pilotinnen und Piloten noch kein vorausschauendes Messverfahren. Daran arbeitet das DLR. Kurzfristige Warnungen sind bislang oft nur möglich, wenn ein voranfliegendes Flugzeug die Flugsicherung informiert hat. Wobei sich Luftmassen ständig ändern.

Wie schützt man sich als Passagier vor Turbulenzen?

Anschnallen und angeschnallt bleiben. »Da es auch zu plötzlich und ohne Vorwarnung auftretenden Turbulenzen kommen kann, raten wir den Passagieren, während des gesamten Fluges angeschnallt zu bleiben, selbst wenn die Anschnallzeichen erloschen sind«, sagt Alexander Klay vom Bundesverband der deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL). Bei vielen Fluggesellschaften gebe es zudem eine Anschnallpflicht.

Die Pflicht zum Anschnallen ist jedoch ebenfalls umstritten. Wenn das Anschnallzeichen den gesamten Flug über leuchtet, könnten Fluggäste dazu tendieren, es zu ignorieren. »Das Anschnallzeichen bedeutet etwas, und wenn man es die ganze Zeit anlässt, bedeutet es nichts mehr«, sagt Dennis Tajer von der US-Pilotengewerkschaft Allied Pilots Association.

Welche Schadensersatzansprüche hat man hinterher?

Wer bei einem Flug wegen Turbulenzen verletzt wurde, hat Anspruch auf Schadensersatz. Das »Montrealer Abkommen« von 1999 sieht vor, dass Reisende im internationalen Luftverkehr Entschädigung bei Unfällen, Gepäckverlust und Verspätungen erhalten. Turbulenzen gelten als Unfall, daher ist es unerheblich, ob die Fluggesellschaft fahrlässig gehandelt hat. Aber wie viel Geld die Betroffenen erhalten, kann sich selbst bei identischen Verletzungen drastisch unterscheiden. Lesen Sie hier mehr darüber.

Mit Material der Agenturen

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