EM 2024: Herzstück und Schwachstellen: Schottland in der Analyse

13 Tage vor

Schottland geht als Außenseiter in das Auftaktspiel der Europameisterschaft gegen Deutschland. Die "Bravehearts" sind aber eine eingespielte Einheit und verfügen über zwei torgefährliche Mittelfeld-Antreiber. Der DFB-Gegner in der Analyse.

Schottland - Figure 1
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Die Form

Schottland war in der Qualifikation für das Turnier in Deutschland auf einer klaren Mission - und mauserte sich schnell zur Überraschungsmannschaft. In einer schweren Gruppe legten die "Bravehearts" los wie die Feuerwehr, gewannen die ersten fünf Partien - unter anderem ein 2:0 gegen Spanien - allesamt. Das EM-Ticket lösten die Schotten komfortabel auf dem Sofa, weil Spanien gegen Norwegen Schützenhilfe leistete. Mit beachtlichen 17 Punkten belegte Schottland in Quali-Gruppe A am Ende Platz zwei.

Diese Form konnte Schottland jedoch nicht bestätigen, vor dem Sieg im Freundschaftsspiel gegen Gibraltar hatte das Team von Nationaltrainer Steve Clarke eine Serie von sieben sieglosen Spielen hinter sich - eine längere derartige Durststrecke gab es nur 1998. Jedoch testete Schottland unter anderem gegen Hochkaräter wie England, Frankreich und die Niederlande. Überraschend kam nur die Niederlage Ende März gegen Nordirland.

Die "Bravehearts" dürften also mit gemischten Gefühlen in das Eröffnungsspiel gegen Deutschland gehen, zumal man auch bei der Generalprobe nicht vollends überzeugen konnte. Beim 2:2 im abschließenden EM-Test gegen Finnland am vergangenen Freitag verspielte Schottland leichtfertig eine 2:0-Führung.

Diese Generalproben seien nie einfach, erklärte Clarke. Womöglich gingen seine Spieler gegen Ende der Partie auch aus Sorge vor möglichen Verletzungen nicht mehr mit letzter Konsequenz in die Zweikämpfe. Mit Vielem, was er gesehen hat, sei er aber "sehr zufrieden", so der 60 Jahre alte Coach, dessen Team während des Turniers in Garmisch-Partenkirchen untergebracht ist.

Die Schlüsselspieler

In einem Team, das keinesfalls mit großen Namen gespickt ist, stechen drei Profis aus der Premier League heraus. Zum einen ist da Scott McTominay, der in der Qualifikation sieben Tore erzielte und damit in der Torschützenliste auf Platz fünf hinter internationalen Größen wie Romelu Lukaku (14), Cristiano Ronaldo (10), Kylian Mbappé (9) und Harry Kane (8) landete. McTominay übertraf dabei seinen Expected-Goals-Wert um 5,2 Treffer - nur Lukaku verwertete seine Möglichkeiten noch besser (+8,1).

Während der 27-Jährige bei Manchester United zum Ende der abgelaufenen Saison häufiger sogar als Stürmer eingesetzt wurde, gibt McTominay bei den "Bravehearts" den Part des Antreibers auf der Doppelsechs. Während Nebenmann Billy Gilmour für die Spielgestaltung zuständig ist, dringt McTominay im Spiel nach vorne immer wieder in den gegnerischen Strafraum ein. Alle sieben Treffer in der Qualifikation erzielte der Rechtsfuß in der gegnerischen Box.

Schottland - Figure 2
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Diese Grafik zeigt unter anderem, aus welchen Positionen Scott McTominay seine Treffer in der Qualifikation erzielte. Opta

McTominay agiert mit seinen 1,93 Metern Körpergröße gerne als Zielspieler, der mit Wucht in entscheidende Räume eindringt und ist daher nicht allzu sehr in die Kreation von Chancen eingebunden. In 652 Spielminuten in der Qualifikation legte er aus dem Spiel heraus lediglich zwei Torschüsse auf, ganze 17-mal zog er selbst ab.

Der Alleinunterhalter ist McTominay derweil keinesfalls, denn das Herzstück der "Bravehearts" ist John McGinn. Unter Trainer Clarke, der seit Mai 2019 im Amt ist, hatte der kernige Mittelfeldspieler von Aston Villa die meisten Einsätze (52), spielte die meisten Minuten (4194), erzielte die meisten Tore (18) und legte die meisten auf (9).

Anders als McTominay, der meist für die Torabschlüsse zuständig ist, liefert McGinn viel lieber den entscheidenden Pass. In der EM-Qualifikation war der 29-Jährige, der in Schottlands 3-4-2-1 als hängende Spitze agiert, mit Abstand an den meisten schottischen Ballstafetten, die mit einem Torschuss endeten, beteiligt (33). 14-mal suchte McGinn selbst den Abschluss, achtmal lieferte er die direkte Schussvorlage ab und weitere elfmal verteilte der erfahrene Premier-League-Spieler (169 Partien) die Bälle schon im Spielaufbau vor einem Abschluss.

Die Heatmap zeigt, in welchen Bereichen des Spielfelds John McGinn am häufigsten auftaucht. Opta

Zwar erzielte McGinn 16 seiner 18 Tore unter Clarke innerhalb des Strafraums, doch am liebsten hält er sich - auch positionsbedingt - im rechten Halbfeld auf. Dabei zieht es McGinn auch oft auf den Flügel, um zum einen den Raum im Zentrum für Spieler wie McTominay zu öffnen, zum anderen aber auch, um den Schienenspieler im Kombinationsspiel zu unterstützen. Vor allem ist aber das Zusammenspiel mit McTominay hervorzuheben, durch ihr Gespür für den Raum hatte das Duo in der Qualifikation die meisten Ballaktionen im generischen Strafraum (McGinn: 24 - McTominay: 18).

Während McGinn die rechte Angriffsseite bespielt, kommt mit Andrew Robertson Schottlands wohl bekanntester Spieler über die linke Schiene. Der Kapitän und Linksverteidiger des FC Liverpool zeichnet sich neben seiner Galligkeit in den Zweikämpfen durch seinen ausgeprägten Offensivdrang aus. Mit 59 Assists hält der 30-Jährige den Rekord für die meisten Premier-League-Vorlagen eines Verteidigers.

Schottland - Figure 3
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Welchen Wert Robertson für die Nationalmannschaft hat, stellte er jüngst beim 2:2 gegen Finnland unter Beweis. Das Eigentor zum 1:0 provozierte Robertson mit einer scharfen Hereingabe von der linken Seite, beim 2:0 fand er mit einer präzisen Flanke den Kopf des Torschützen Lawrence Shankland.

Die Stärken

Neben den drei sportlichen Säulen vertraut Coach Clarke auf einen festen Stamm, 13 Spieler absolvierten 25 oder mehr Spiele unter ihm. Die Beständigkeit der Auswahl hat zu einer vereinsähnlichen Kameradschaft und guter Abstimmung auf dem Platz geführt.

Zudem zeichnet die Schotten, die gerne durch klassische Fußball-Tugenden überzeugen, eine Stabilität bei gegnerischen Standardsituationen aus. In der Qualifikation wurden die "Bravehearts" nur ein Mal nach ruhenden Bällen bezwungen - und das gegen Norwegen bei einem Elfmeter von Erling Haaland.

Auch die Torausbeute kommt längst nicht mehr so bieder daher. Schottland erzielte 17 Tore in den acht Spielen der EM-Qualifikation (durchschnittlich 2,1 Treffer pro Spiel). Das ist die zweitbeste Quali-Quote für Schottland seit 2016, als man 2,2 Tore pro Partie erzielte. Und das, obwohl Schottland lange über keinen treffsicheren Mittelstürmer verfügte.

Die Schwächen

Was schon zu den Schwächen der Schotten überleitet. In der Sturmreihe ist Schottland weiterhin auf der Suche nach der Optimalbesetzung. Gegen Gibraltar und Finnland durfte sich Shankland, mit 21 Treffern erfolgreichster Torschütze der Scottish Premiership, in der Spitze beweisen. Der Stürmer von Heart of Midlothian kommt in elf Länderspielen auf drei Tore und dürfte auch gegen Deutschland den Vorzug vor Ché Adams erhalten. Der Angreifer vom FC Southampton war in der abgelaufenen Saison mit immerhin 16 Toren maßgeblich am Wiederaufstieg der Saints in die Premier League beteiligt. Im Nationalteam bestritt er aber seit Juni 2022 keinen Einsatz mehr über die volle Spielzeit und erzielte zuletzt gegen Gibraltar seinen ersten Treffer seit zwei Jahren.

Dem Kader der "Bravehearts" fehlt es an der qualitativen Breite, denn auch in der Innenverteidigung und auf der Torhüterposition ist Schottland schon seit Jahren schwächer besetzt. Stammkeeper Angus Gunn spielt beim englischen Zweitligisten Norwich City, ebenso sein gesetzter Vordermann Grant Hanley.

Dazu kommt, dass Schottland ausgerechnet über die Seite von Kapitän Robertson die meisten Treffer kassiert. Sieben der acht Gegentore in der Qualifikation wurden über die Außenbahnen eingeleitet. Sechs davon über die linke Abwehrseite. Kann Robertson die Hereingaben nicht verhindern, stimmt auch die Zuordnung im Zentrum nicht. Drei der acht Gegentore fielen durch Direktabnahmen nach Flanken aus dem Spiel. Das entspricht einem Anteil von 38 Prozent, nur bei Slowenien ist dieser Wert knapp höher (44%).

75 Prozent der gegnerischen Angriffe liefen bei Schottland über die Außenbahnen. Opta

Neben den Schwächen in der Defensive und der Abhängigkeit von McTominay und McGinn im Angriff hat Schottland auch mit einem Vorrundenfluch zu kämpfen. Weder bei acht WM- noch bei drei EM-Endrundenteilnahmen schafften es die "Bravehearts" über die Gruppenphase hinaus. Auch bei der EM in diesem Jahr gehen die Schotten, die mit Aaron Hickey, Nathan Patterson und Lewis Ferguson auf drei verletzte Leistungsträger verzichten müssen, als krasser Außenseiter in der Gruppe ins Turnier.

Tim Sohr

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