Sahra Wagenknecht Die Kalkstein-Königin

2 Sep 2024

Z+ (abopflichtiger Inhalt); Sahra Wagenknecht: Die Kalkstein-Königin

Sahra Wagenknecht - Figure 1
Foto ZEIT ONLINE

Sahra Wagenknechts stoische Ruhe erinnerte schon immer an die ägyptische Königin Nofretete. Sollte sie ähnlich regieren, müsste sich die ostdeutsche CDU warm anziehen.

2. September 2024, 16:53 Uhr

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Die Ähnlichkeit ist frappant: Nicht nur haben Sahra Wagenknecht und Nofretete ein herrschaftliches Profil, sie verfügen auch über einen verwandten Machtwillen. © Urban Zintel/​laif; Christophe Gateau/​dpa

An dem Tag, als 1912 die Büste der Nofretete aus dem tiefen Wüstensand Ägyptens geborgen wurde, war zufällig eine Delegation des sächsischen Herrscherhauses vor Ort –  und drängelte sich schnell zu ihr vor, um ihr so nahe wie möglich zu kommen. An dem Tag, als 2024 die Büste der Sahra Wagenknecht lächelnd aus der verwüsteten politischen Landschaft Deutschlands aufstieg, suchte wiederum das aktuelle Herrscherhaus in Sachsen, die Christdemokraten, einen ganzen Wahlabend lang in jedem Fernsehstudio ihre unmittelbare Nähe. 

Man hatte ja bislang immer das Gefühl, seit Jahrhunderten säße Wagenknecht mindestens einmal die Woche in einer deutschen Talkshow, um mit starrem Blick in eine Gegenwart und Zukunft zu schauen, die niemand außer ihr erkennen konnte. Wenn sie nicht sprach, verwandelte sie sich in eine unbewegliche Statue, ihre Gesichtszüge erinnerten in ihrer Feinheit und Strenge an die berühmte Büste der Nofretete – und ihr Dutt hatte, wohlwollend betrachtet, etwas von einer Königskrone. Die antiken ägyptischen Bildhauer haben so gut wie nie in den Gesichtern ihrer Königinnendarstellungen irgendeine Gemütsbewegung zum Ausdruck gebracht, weshalb sich Wagenknecht eben auch phänotypisch von ihrem einstigen Vorbild Rosa Luxemburg irgendwann ganz in Richtung des ägyptischen vorchristlichen 14. Jahrhunderts umorientiere. Selbst wenn sie von Fanatikern mit Farbe bespritzt wird, entgleiten ihr, wie es sich für eine Königin aus Kalkstein gehört, nie die Gesichtszüge. 

Aber durch all ihre Talkshow-Jahrhunderte hinweg war Wagenknecht stets eine Königin ohne Land, ohne eine Partei, die ihr folgte. Nein, sie saß einfach da, erhaben und stolz, in Kostümen, die aus genauso fernen Jahrhunderten zu stammen schienen wie sie selbst. Nun aber hat sich alles geändert. Zwar hatte sie am Wahlabend wieder so ein sonderbares rot-schwarzes Kleid an, dessen Femininität nicht zur Kühle ihres politischen Körpers passt. Aber zum ersten Mal huschte eine Art Lächeln über ihre Züge, ganz kurz, weil sie plötzlich von einer skurrilen Randfigur der deutschen Innenpolitik zu einer Königsmacherin geworden war. Noch vor ein paar Jahren war das nicht abzusehen, nachdem ihr vormaliges Bündnis "Aufstehen" dann noch ein wenig zu sehr nach einem ruppigen Guten-Morgen-Ruf klang, der durch die ostdeutschen Schlafzimmer hallt.

Stattdessen beschloss sie offenbar, die solchermaßen Wachgerüttelten direkt auf ihren Namen einzuschwören. BSW, Bündnis Sahra Wagenknecht, das gab es noch nie in der deutschen Politik: dass eine Partei unter dem vollen Namen ihres Gründers oder gar ihrer Gründerin in einem Flächenland erfolgreich war, dass alles auf sie zugeschnitten ist, selbst das Wlan-Passwort auf der Wahlparty. Für viele Westdeutsche bleibt es weiterhin ein Rätsel, woher diese intelligente Stoikerin ihre massenmobilisierende Anziehungskräfte bezieht, aber ihr Slogan "Wir geben ihrer Zukunft eine Heimat" scheint funktioniert zu haben für über zehn Prozent der Thüringer und Sachsen, denen es in ihrer ideologischen Obdachlosigkeit zu ungemütlich wurde.

Konfliktsteuerung ist die Geheimwaffe großer Herrscherinnen

Um zu ahnen, was sie und uns jetzt erwartet, lohnt sich ein Blick auf ihre Geschichte – und die der Nofretete. Die Kommunistin Wagenknecht ist überraschenderweise promovierte Volkswirtschaftlerin. Und der Titel ihrer Doktorarbeit "Die Grenzen der Wahlfreiheit" dürfte bald auch als Motto für die thüringischen und sächsischen Landesverbände der CDU gelten, die offenbar nur mit Sahra Wagenknecht eine Regierung bilden können, mit unabsehbaren Folgen für die Partei. 

Und die ostdeutsche CDU wäre gut beraten, sich kurz vor Beginn der Koalitionsverhandlungen auch mit der Nofretete selbst zu beschäftigen. Ihr übersetzter Name – nämlich "Die Schöne ist gekommen" – ist eine zwar etwas verkürzte und oberflächliche, aber im Kern doch zutreffende Beschreibung der Wählerwanderung am gestrigen Wahlsonntag. Nofretete ist ebenso als Halbwaise aufgewachsen wie Sahra Wagenknecht, die mit ihrer Mutter in Jena groß geworden ist, nachdem ihr iranischer Vater verschwunden war. Besonders interessant ist aber, wie Nofretete ihre ursprüngliche Rolle in der Koalition mit dem Pharao Amenophis IV. nach dessen Thronbesteigung veränderte: die Ehe, die der ägyptische König mit ihr einging, hatte rasch sein ursprüngliches, hierarchisches Verhältnis eingebüßt, ja, selbst von einer Zugewinngemeinschaft zu sprechen, wäre falsch. Die Monarchin erlangte sehr schnell große politische und religiöse Kraft und schaffte es als erste Frau der ägyptischen Antike zur Mitherrscherin. Manche Historiker vermuten sogar, dass der eigentliche Regent nur mehr als eine Art Frühstücksdirektor agierte, während sie alle Fäden in der Hand hatte. Nofretete hatte große Fähigkeiten in der Kriegsführung, dem Niederschlagen von Feinden und dem, was man heute Konfliktsteuerung nennt. Ist es nicht eigentlich das Zeichen einer wahren Königin, dass Sahra Wagenknecht es in ihrer von ganz rechts nach ganz links reichenden politischen Agenda vermag, aus einem vertikalen Klassenkonflikt einen horizontalen Klassennationalismus zu machen, wie es Oliver Nachtwey jüngst erkannt hat? 

Gerade die Bundespolitiker in Berlin sollten vor den beginnenden Koalitionsverhandlungen einmal einen Blick in das Ägyptische Museum um die Ecke ihrer Parteizentralen werfen: Dort sitzt auf einem Relief Nofretete während einer Art Talkshow auf einem Stuhl, der eigentlich nur dem König vorbehalten ist und das Symbol der Vereinigung der Beiden Länder (Semataui) trägt. Das ist wohl der überzeugendste prophetische Hinweis, dass Nofretete dereinst als deutsch-deutsche Klassenkämpferin wiedergeboren werden musste – und Thüringen und Sachsen natürlich erst der Anfang sind. Denn in der Religion des alten Ägypten war die spätere Reinkarnation von Herrschern eine relativ ausgemachte Sache, und mit diesem Wahlsonntag ist es Sahra Wagenknecht nun überzeugend gelungen, sich selbst als neue Nofretete ins Spiel zu bringen und endgültig die Sängerin Beyoncé auszustechen, die ebenfalls wiederholt Ansprüche angemeldet hatte. 

Beyoncé kommt auch deshalb nicht infrage, weil sich die Aura und das Charisma von Nofretete allein auf bildlichen Quellen gründet. Auch Sahra Wagenknecht bleibt, durchaus ungewöhnlich für eine Populistin, nicht durch mitreißende rhetorische Auftritte in Erinnerung, sondern als nonverbale Erscheinung, als Büste einer Frau, der es egal ist, wer unter ihr auf dem Ministerpräsidentensessel sitzt.

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