Bürgergeld: Wie faul darf man in Deutschland sein?

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Lars Klingbeil - Figure 1
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Z+ (abopflichtiger Inhalt); Bürgergeld: Wie faul darf man in Deutschland sein?

Wenn in der Politik gespart werden muss, sind die Schuldigen schnell gefunden: all die Faulen! Das Problem ist: Die Deutschen haben geradezu eine Obsession damit.

8. Oktober 2024, 13:07 Uhr

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Würden deutsche Sozialdemokraten eine Zeitreise ins Jahr 1883 unternehmen und dort dem französischen Sozialisten Paul Lafargue in die Arme laufen, die Stimmung wäre vermutlich ziemlich mies. Mit Lafargues vor 150 Jahren erschienener Streitschrift Das Recht auf Faulheit könnten heutige SPD-Politiker wenig anfangen – und umgekehrt könnte Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, wohl kaum fassen, wie die Nachkommen der sozialistischen Bewegung eben jenes von ihm ausgerufene Recht im 21. Jahrhundert entschieden verneinen.

"Es gibt kein Recht auf Faulheit", sagte Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, in einem Interview kurz nach den sächsischen und thüringischen Landtagswahlen mit Blick aufs Bürgergeld. Das "Leben der Fleißigen" solle verbessert werden, führt Klingbeil darin aus, aber "wer sich einer Zusammenarbeit mit dem Staat verweigert, der wird das zu spüren bekommen".

Klingbeil dürfte sich darüber bewusst gewesen sein, dass er mit seiner Rede von der Faulheit nicht nur Paul Lafargue, sondern auch einen anderen Parteigenossen zitierte. Nahezu wortgleich hatte Gerhard Schröder im Jahr 2001, damals seit drei Jahren Bundeskanzler, zur diskursiven Einstimmung auf die Agenda 2010 in der Bild verkündet: "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!"

Faulheit als Kampfbegriff

Faulheit als politischer Kampfbegriff ist unglaublich wirksam. Unklar, ob Klingbeil und Schröder wirklich jedes Rumfläzen auf deutschen Sofas unter Verdacht stellen wollen. Die Volte, Arbeitslosigkeit mit Faulheit gleichzusetzen, ist jedenfalls beinahe so alt wie der Kapitalismus selbst. Doch sie geht einerseits an der Realität vorbei, in der Erwerbslose aus vielen anderen Gründen als aus Lustlosigkeit keiner Arbeit nachgehen. Sie ist andererseits auch dringender Anlass, um misstrauisch zu werden und genauer hinzusehen: Die Behauptung, Menschen seien faul, diente in der Vergangenheit oft genug der Legitimation ihres Elends – und lenkt von bedeutsameren gesellschaftlichen Missständen ab.

Die Figur der faulen Arbeitslosen tauchte Ende des 19. Jahrhunderts erstmals auf: Durch wirtschaftliche Krisen verloren Menschen immer wieder ihre Arbeit in Fabriken, erstmals überhaupt wurde Erwerbslosigkeit statistisch erhoben. Zur Erklärung dieses neuen Phänomens diente eine Annahme, die wir bis heute kennen: Wer keine Arbeit hat, ist selbst dran schuld.

Vom "parasitären Leben" bis zum "kollektiven Freizeitpark"

In Deutschland unterliegt das Bild vom faulen Arbeitslosen seither gesellschaftlichen Konjunkturen: Im Nationalsozialismus galt, wer keine Arbeit hat, als "parasitäres Leben". Zur Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders herrschten in Westdeutschland Wohlfahrtsstaat und nahezu Vollbeschäftigung – und damit weniger Anlass, sich über faule Arbeitslose zu beklagen. Aber im Laufe der folgenden Jahrzehnte betrat die Figur immer wieder die Bühne der westdeutschen Öffentlichkeit: 1970 brach das Wachstum ein, Massenarbeitslosigkeit war die Folge – Arbeitsminister Arendt sprach, in bemerkenswerter Nähe zur nationalsozialistischen Metapher des Parasiten, von sozialem "Wildwuchs". Mitte der Neunzigerjahre, das Wirtschaftswunder war lang vergangen, warnte Kanzler Helmut Kohl im Bundestag vor einem "kollektiven Freizeitpark" und prägte den bis heute populären Begriff der "sozialen Hängematte". Ein knappes Jahrzehnt später gelang es Gerhard Schröder nicht, die Arbeitslosigkeit wie im Wahlkampf versprochen zu halbieren – woraufhin er das Recht auf Faulheit entschieden verneinte.

Zwei Jahre später stellte Schröder die Agenda 2010 vor, in deren Zentrum die sogenannten Hartz-Reformen des Arbeitsmarktes standen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt, Regelsätze gesenkt, Arbeitslose durch Sanktionen eingeschüchtert. Hartz IV, das war nicht nur das Synonym fürs Arbeitslosengeld II, sondern für viele auch Inbegriff eines Lebensstils, wie ihn das nachmittägliche Privatfernsehen darstellte: "Hartzen" bedeutete in der öffentlichen Darstellung oft Rauchen, Saufen und Faulenzen. Wohl auch aufgrund dieses semantischen Schattens wählte die Ampelkoalition, als sie eine Reform von Hartz IV beschloss, einen neuen Namen: Die Grundsicherung heißt seit Januar 2023 Bürgergeld. Höhere Regelbedarfe sowie weniger Sanktionen sollen Beziehern seither das Leben erleichtern. Ob sich dieses Versprechen bewahrheitet, ist mehr als umstritten.

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