Europawahl: Was bedeutet der Rechtsruck für die Zukunft?

von Charlotte Wirth

10.06.2024, 09:25 6 Min.

In vielen Ländern Europas haben rechtskonservative Parteien bei der Europawahl massiv zugelegt. Was heißt das für das künftige Europäische Parlament – und Kommissionschefin Ursula von der Leyen?

Europawahlen - Figure 1
Foto Capital - Wirtschaft ist Gesellschaft

Es ist 20.30 Uhr, im Plenarsaal des Europäischen Parlamentes sitzen nicht wie gewöhnlich Europaabgeordnete, sondern Hunderte Journalisten und Journalistinnen. Musik ertönt, als die Präsidentin des Parlamentes auf die Bühne tritt. Roberta Metsola, weiße Bluse, blaue Chinos. Wie eine Moderatorin stellt sie die ersten Hochrechnungen des künftigen Europaparlamentes vor. 

Sie wirkt nüchtern und besonnen, dabei hätte sie zumindest einen Grund zu Freude. Das große Tortendiagramm leuchtet auf den Bildschirmen auf. Ihre Fraktion, die EVP mit Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin, erscheint als großer blauer Balken in der Mitte, sie bleibt die stärkste Kraft im Europäischen Parlament, gewinnt sogar ein wenig dazu. 

Verschiebung nach rechts

Doch der Halbkreis ist fragmentierter denn je. Die Liberalen und insbesondere die Grünen haben an Stimmen eingebüßt. Und vor allem: Das Tortendiagramm erstreckt sich weit nach rechts: Die rechtskonservative EKR. Die rechtsextreme ID. Die Fraktionslosen, zu denen aktuell auch die AfD gehört. Die neuen Parteien, auch sie mehrheitlich europakritisch. Sie alle haben zugelegt. An diesem Trend wird sich im Laufe des Abends nichts mehr ändern, nur kleine Sitzverschiebungen, wird es noch geben

Nur eine halbe Stunde nachdem Roberta Metsola auf der Bühne des Brüsseler Plenarsaals die ersten Hochrechnungen vorliest, meldet sich auch der französische Präsident Emmanuel Macron zu Wort – doch mit einer ganz anderen Botschaft, es ist ein Paukenschlag: Er löst die Nationalversammlung auf und kündigt Neuwahlen an: Er könnte nicht so tun, als hätte es diese Wahl nicht gegeben – „diese Wahl“: den Erdruschtsieg von der Rechten in Franreich. Die Ergebnisse sind beispielhaft für den Aufstieg der Rechten in Europa. Auf 31,5 Prozent kommt Marine Le Pens Rassemblement National nach derzeitigem Stand. Im zweitgrößten Land der EU sind die Rechtspopulisten die stärkste Partei. 

Bereits nach den ersten Hochrechnungen postet Marine Le Pen auf X: Das französische Volk wolle nicht länger ein „technokratisches, bodenloses und zunehmend brutales Konstrukt, das seine Geschichte verleugnet, seine grundlegenden Vorrechte missachtet und sich in einem Verlust an Einfluss, Identität und Freiheit niederschlägt“.

Selbst Skandale konnten die AfD nicht schwächen

Auch in Deutschland jubeln die Rechten. 15,6 Prozent für die AfD, „ein historisches Ergebnis“, schwärmt Timo Chrupalla. Die AfD ist zweitstärkste Partei, im Osten sogar erste. Und das trotz eines Spitzenkandidaten, der der Spionage für China und der Einflussnahme für Russland verdächtigt wird, dessen Mitarbeiter in Haft sitzt, der der Meinung ist, nicht alle SS-Mitglieder seien Kriminelle gewesen.

Welche Partei freut und wer ärgert sich über das vorläufige Wahlergebnis? Wer kann aufatmen? Eine erste Analyse zu den Ergebnissen der Europawahl

Doch was bedeutet das für die künftige Arbeit des Europaparlaments? Es ist eine Frage, die sich erst in den nächsten Wochen klären wird. Die Rechten mögen erstarkt sein, geeint sind sie jedoch nicht. Wie sehr sie die nächste Legislatur bestimmen werden, wird davon abhängen, ob sich die verschiedenen Rechtsaußenparteien zu einer starken Fraktion zusammenraufen können. Aktuell ist das nicht der Fall.

Europawahlen - Figure 2
Foto Capital - Wirtschaft ist Gesellschaft

Da gibt es einerseits die rechtspopulistische EKR-Fraktion, zu der Melonis Fratelli d’Italia aber auch die spanische Vox oder die polnische PiS gehören. Andererseits die rechtsextreme ID-Fraktion des Rassemblement National, Matteo Salvinis Lega und bis vor kurzem der AfD.  Erst vor wenigen Tagen hat Marine Le Pen letztere aus der ID-Fraktion gedrängt, zum Anlass nahm sie das Interview von Maximilian Krah, in dem verharmlosend über die SS sprach. 

Le Pen will salonfähiger und anschlussfähiger für gemäßigtere Partner zu wirken, sie sprach sich in Interviews offen für eine Zusammenarbeit mit Giorgia Melonis Fratelli d’Italia aus. Eine geeinte Rechte könnte progressive Gesetzesvorschläge blockieren, den Green Deal stoppen, sich einer weiteren Integration der EU widersetzen. Ob es dazu kommen wird? Im Moment eher unwahrscheinlich. 

Meloni wird von allen umworben

Meloni ist bisher nicht auf das Angebot der Französin Le Pen eingegangen. Und in entscheidenden Fragen stehen sich die Rechtsaußenparteien oft diametral gegenüber: Die einen sind nur europakritisch, die anderen für einen EU-Austritt. Die einen Pro-Russland, die anderen gegen Putin. Lässt sich auf dieser Basis eine große Fraktion bilden?

Es ist 22 Uhr, als die Fraktionsvorsitzenden für erste Statements vor die Presse im Brüsseler Plenarsaal treten. Der Co-Vorsitzende der Grünen, der Belgier Philippe Lamberts, versucht, sich die Wahlniederlage nicht anmerken zu lassen, ringt sich hier und da ein schwaches Lächeln ab. 

Schlechte Außenhandelszahlen mit Russland zeigen: Die Angst vor amerikanischen Sanktionen zwingt die chinesischen Banken zur äußersten Vorsicht bei Geschäften mit Putin

„Wenn die Konservativen, Sozialisten und Liberalen ein stabiles, soziales Europa wollen, dann können sie nicht mit den Rechten koalieren, sondern müssen mit den Grünen zusammenarbeiten“, sagt Lamberts. Die Grünen, sie sind die großen Verlierer der Europawahlen. Auch das: keine Überraschung. Auch das haben die Umfragen in den letzten Wochen und Monaten vorhergesagt. Als die deutschen Grünen im November 2023 bei der Bundesdelegiertenkonferenz ihre Listenplätze ausloteten, rechneten sie bereits nur noch mit 15 Sitzen geworden. Das Verbrennermotor-Aus, zu harte Klimaziele, erdrückende Auflagen, all das wird den Grünen angekreidet. Letztlich verlieren sie deutlich mehr Stimmen als befürchtet. Die grüne Fraktion wird wohl von 71 auf 52 Sitze zusammenschrumpfen. 

Die Liberalen schrumpfen zusammen – wegen Macrons Verlusten

Auch den Liberalen und Sozialisten wurden Sitzverluste vorausgesagt. Doch die S&D-Fraktion, die der recht unbekannte Luxemburger Spitzenkandidat Nicolas Schmit in diesen Wahlkampf führte, kann ihre Sitze im Parlament halten. Schmit hat eine Zusammenarbeit mit rechten Kräften ausgeschlossen und Ursula von der Leyen davor gewarnt. Würde die EVP mit der Postfaschistin Meloni gemeinsame Sache machen, verliere sie die Unterstützung der Sozialisten, so Schmit. "Wir sind offen für die Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften und wir sind geschlossen für alle, die Europa zerstören wollen”, betont er am Wahlabend. 

Europawahlen - Figure 3
Foto Capital - Wirtschaft ist Gesellschaft

Die Liberalen hingegen, sie hadern mit dem schlechten Wahlergebnis der französischen Renaissance. 2019 war es Macron, der die Liberalen in Europa zu einer neuen Fraktion, Renew Europe, zusammenführte. Macrons Abgeordnete hatten hier das Sagen, wurden streng von Paris kontrolliert. Macron hatte dadurch nicht nur großen Einfluss unter den Staats-und Regierungschefs, sondern auch im Parlament. Doch nun haben sie rund 20 Sitze verloren, Macron wurde in Frankreich abgestraft. Die ohnehin schon gespaltene Fraktion droht auseinanderzubrechen. Ihre Vorsitzende, die Französin Valerie Hayer, tritt am Wahlabend gar nicht mehr auf die Bühne, sie sei kurzfristig verhindert, heißt es. Ein Raunen geht durch das Plenum. 

23.30 Uhr, die meisten Länder sind weitgehend ausgezählt, auch in Italien haben die Wahlbüros nun geschlossen. EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen schreitet auf die Bühne, goldener Blazer, schwarze Hose, sie knipst ihr Lächeln an. „Wir sind die Gewinner. Wir sind ein Anker der Stabilität. Die Mitte hält“, sagt sie.

Ursula von der Leyen steht an der Spitze der EU-Kommission. Jetzt strebt sie eine zweite Amtszeit an – und liebäugelt dafür auch mit der extremen Rechten

An diesem Abend spricht sie zu Liberalen und Sozialisten, sie ruft sie zur Zusammenarbeit auf: „Wir wollen ihnen die Hand reichen und auf unserer konstruktiven und bewährten Beziehung aufbauen.“ Es sind deutlich gemäßigtere Worte als im Wahlkampf, die Ursula von der Leyen an diesem Abend von sich gibt. In den letzten Wochen blickte die EVP vor allem nach rechts, zu Giorgia Meloni.

Ursula von der Leyen mag als Wahlgewinnerin auftreten, ihre Zukunft ist mit dem Wahlergebnis noch nicht besiegelt. Sie muss formell von den europäischen Staats-und Regierungschef als Kommissionspräsidentin nominiert werden. Und die sind dafür bekannt, sich bei der Wahl der Kommissionsspitze nicht immer an das Prinzip der Spitzenkandidaten zu halten. 

Von der Leyen selbst hatte sich 2019 gar nicht zur Wahl gestellt, Emmanuel Macron hatte die damalige Verteidigungsministerin überraschend vorgeschlagen und durchgesetzt. Auch dieses Mal kursieren hinter den Kulissen bereits andere Namen. Wiederum Macron etwa hat den Ex-EZB-Chef und Italiener Mario Draghi ins Spiel gebracht. Allerdings: Nach der Wahlniederlage seiner Bewegung ist fraglich, ob der Franzose seine Wünsche ein weiteres Mal durchsetzen kann.

Auch die Mehrheit des Parlamentes muss Ursula von der Leyen für sich gewinnen. 2019 gelang ihr das nur sehr knapp mit 383 Stimmen, nur neun Stimmen mehr als die absolute Mehrheit. Mit der EVP, den Sozialisten und den Liberalen könnte sie es einmal mehr schaffen, allerdings müssten alle Abgeordneten geschlossen für sie stimmen. Welche Versprechen wird sie den Sozialisten und den Liberalen machen, um das zu erreichen? 

Oder setzt sie doch noch auf die gemäßigte Rechte? Am Wahlabend erwähnt sie die Fratelli d’Italia nicht. Sie präsentiert sich als Bollwerk gegen Rechte: „Wir werden sie stoppen“, ruft von der Leyen EVP-Mitgliedern in Brüssel zu. Die Fragen ist nun: Zu welchem Lager rechnet sie Meloni?

Wie es nach der Abstimmung weitergeht:
Bereits am Dienstag kommen die Fraktionsvorsitzenden für ein erstes Treffen zusammen, ziehen eine erste Bilanz der Wahlergebnisse und beraten über die Wahl der nächsten Kommissionspräsidentin. In den kommenden Wochen sondieren die Abgeordneten und Parteien im Europaparlament, Fraktionen konstituieren sich, es werden Mehrheiten gebildet.Am 17 Juni treffen sich die europäischen Staats-und Regierungschefs zu einem informellen Abendessen. Dabei diskutieren sie erstmals über die Besetzung der EU-Spitzenposten (Kommission, Rat, Auswärtiger Dienst). Zehn Tage später, am 27 und 28 Juni, kommen die Staats-und Regierungschefs zum EU-Gipfel zusammen. Dabei wollen sie offiziell über die Spitzenposten entscheiden.Am 16. bis 19. Juli findet die konstitutive Plenarsitzung in Straßburg statt. Dabei wird der Präsident oder die Präsidentin des Parlamentes sowie die Vizepräsidenten und Quaestoren gewählt. Auch über die Zusammensetzung der parlamentarischen Ausschüsse wird entschieden. Eventuell steht bereits die Wahl der Kommissionspräsidentin anAm 16.–19. September finden sich die Abgeordneten ein weiteres Mal in Straßburg ein. Falls es im Juni nicht geschehen ist, stimmen sie dieses Mal über den Vorsitz der EU-Kommission ab. Im Oktober und November finden dann die Anhörungen der Kommissare und Kommissarinnen im Rechtsausschuss statt, danach stimmt das Parlament über das Kollegium (sprich alle Kommissare) ab. Erst jetzt kann die Kommission ihre Arbeit aufnehmen. 

Dieser Artikel ist eine Übernahme des Stern, der wie Capital zu RTL Deutschland gehört. Auf Capital.de wird er zehn Tage hier aufrufbar sein. Danach finden Sie ihn auf www.stern.de.

#Themen Europawahl AfD Italien Marine Le Pen Emmanuel Macron Parteien Europa
Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten
Die beliebtesten Nachrichten der Woche