Album der Woche mit Eminem: So klingt die Traumabewältigung ...

12 Jul 2024

Rapper Eminem

Foto: Universal Music

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Eminem - Figure 1
Foto DER SPIEGEL

Album der Woche:

Eminem – »The Death of Slim Shady (Coup de Grâce)«

Blitzumfrage in der Redaktion vergangene Woche: Echt, Eminem hat ein neues Album? Krass. Na ja, aber der ist eigentlich schon lange over, oder? Ja, schon. Aber Anfang der Nullerjahre, da war der echt der Größte! Hm hm, stimmt. Ist aber nun auch schon eine Weile her, ne? Auf jeden Fall. Aber anhören sollten wir’s, oder? Klar.

An diesem Freitag erschien das neue Album von Marshall Mathers III alias Eminem, jenem weißen Rapper aus Detroit, der unter den Fittichen von Westcoast-Produzent Dr. Dre zu Beginn dieses Jahrtausends zum gefeierten, aber auch kontroversen Hip-Hop-Superstar wurde. Hits wie »My Name Is« oder »Without Me« gehören zum modernen Pop-Kanon. Eminem wurde damit kraft seiner Rap-Skills und einer psychopathischen Kunstfigur namens Slim Shady zu einer unbequemen Stimme der Incels und Abgehängten, die mit beißenden, beleidigenden Wort-Salven auf die Sensibilitäten der Snowflakes feuerte.

Anders als sein nicht minder erfolgreicher Kollege Kanye West ließ sich Eminem aber in der Folge nicht vom Rechtspopulismus der Maga-Jünger und Trumpisten verführen. Dem Trump-nahen Republikaner-Präsidentschaftskandidaten Vivek Ramaswamy ließ er sogar per einstweiliger Verfügung verbieten, seinen Song »Lose Yourself« im Wahlkampf zu verwenden, wofür er von der rechten TV-Kommentatorin Candace Owens als »schwul« bezeichnet wurde. Owens bekommt dafür unter anderem in Eminems neuem Track »Lucifer« ein paar satanische Verse verabreicht.

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Denn ja, nach drei mediokren und zerquälten Alben, die Eminem durch die letzten zehn Jahre hindurch zum Has-been degradierten, zeigt sich der 51-Jährige jetzt noch einmal in Bestform. Davon zeugte bereits die vorab veröffentlichte Single »Houdini«, die sein Comeback auf drei Ebenen brillant vorbereitete:

Song und Video holen Eminems fieses, blondes Psychopathen-Alter-Ego Slim Shady aus der Y2K-Mottenkiste, knüpfen also clever an seine erfolgreichste Zeit an.

Durch die Verwendung von Steve Millers Evergreen »Abracadabra« im Refrain unterlegt er den Track mit einer radiofreundlichen Mainstream-Hook.

Die Lyrics sind gespickt mit Referenzen zu älteren Songs, Konflikten und Videos aus der Eminem-Historie, sodass sich alte Fans abgeholt fühlen, zugleich aber auch die zurzeit bei der Gen Z beliebte Kultur des selbstreferenziellen und popkulturellen Easter-Egg-Suchens bedient wird.

Und siehe da: Mehr als 100 Millionen Aufrufe allein auf YouTube zeugen davon, dass Eminem eben doch noch nicht over zu sein scheint. Guess who’s back?

Aber natürlich stand Eminem vor einem Problem: Wie ließ sich der populäre Unhold Slim Shady in die neue, achtsame Zeit transportieren, ohne dass Marshall Mathers der sogenannten Cancel-Culture zum Opfer fallen würde? Eminem entschied sich für einen Kunstgriff und setzte in Album-Teasern das Narrativ, seine dunkle Seite ein für allemal um die Ecke bringen zu wollen. »The Death of Slim Shady« ist jedoch beileibe nicht der »Gnadenschuss«, der im Untertitel des Albums suggeriert wird, und auch kein Abschied, sondern ein Hip-Hop-erzählerisches Glanzstück. Im fortlaufenden Zwiegespräch mit Shady gelingt es Eminem, dessen rhetorische Rundumschläge jeweils noch im selben Track wieder einzufangen. So kann Slim munter und wortgewandt gegen trans Personen, Kleinwüchsige, Menschen mit Behinderung, Prominente und Kollegen austeilen, bekommt dabei aber immer gleich von Marshall ins Gewissen geredet.

Es ist, als hätte sich Eminem bei Superheldenfilmen und -comics wie »Venom« abgeguckt, wie man eine Battle mit einem inneren Dämon episch inszeniert. In »Tobey« wird dieses Prinzip deutlich: Tobey Maguire, 2002 der erste »Spider-Man«-Darsteller, sei ja von einer radioaktiven Spinne gebissen worden, heißt es im Text, bei ihm selbst aber sei es wohl eher eine Ziege gewesen, das gehörnte Tier, das im Okkultismus als Satanssymbol dient. »Lucifer«, »Evil« und »Antichrist« funktionieren auf dieselbe Weise, als Psychothriller und großes Rap-Actionkino. Zugleich platziert Eminem geschickt Verweise an unflätige Serien wie »South Park« oder »Family Guy«, deren inhaltliche Krassheit durch den Transport ins Cartoonhafte abgemildert wird. Eminem, dafür spricht auch das oft Burleske der begleitenden Beats und Musik-Samples, stilisiert sich hier selbst zum Cartoon, zur Comedyfigur. Zum Teil klingt er sogar beim Rappen, als wäre er seine eigene Weird-Al-Yankovic-Parodie. Ein Mordsspaß.

All das kann man feige finden, aber es eröffnet Eminem einen Weg, weiterzumachen, ohne sich selbst und seine Vergangenheit zu verleugnen. Im Gegenteil: Selbst einen höhnischen, einst vom »Encore«-Album verbannten Track über den ehemaligen »Superman«-Darsteller Christopher Reeve kann er nun relativ gefahrlos veröffentlichen. Damals, 2004, wurde er aus Pietätsgründen weggelassen, weil der nach einem Unfall querschnittsgelähmte und an einen Rollstuhl gefesselte Reeve gerade verstorben war. Heute bläst Eminem den nun »Brand New Dance« betitelten Track dreist im ersten Albumdrittel heraus, nur um später, im großen Shady-Therapiegespräch »Guilty Conscience 2«, den Kontext zu erklären: Alles die Schuld des unreifen Slim, der geistig immer noch auf dem Niveau eines Dreizehnjährigen agiere und nach ultimativer Kontroverse dürstet. »Ja, ja«, entgegnet Shady, »aber du bist ja ich.«

Eminem löst also das Dilemma, nicht mehr alles sagen zu können, was ihm so in halsbrecherischen Stakkato-Reimen durchs Hirn schießt, indem er seine halbstarke Pöbel-Persona abspaltet. Er hält sie vordergründig in Schach, um sie hintenrum dann doch gegen die Woke-Kultur und die »PC Police« der jungen Generation wettern zu lassen, die auch der gereifte Marshall als Zumutung und Maulkorb empfindet. Doch macht er all das, all diese Finten und Kniffe, auf so entwaffnende Weise mit allen Mitteln seines Musikgenres transparent, dass einem Kanye Wests jüngste Inszenierung als beleidigte Dauerleberwurst  umso hohler, stumpfer und narzisstischer vorkommen muss.

Das gilt auch für die Aufarbeitung mentaler Probleme. Im Track »Habits« schildert Eminem, wie eng seine Slim-Shady-Persona mit seiner bekanntermaßen problematischen und lieblosen Kindheit und Jugend verknüpft ist und wie der blond gefärbte Rüpel als Waffe und Schutz gleichermaßen diente. Ein dramatischer, faustischer Pakt mit dem giftigen Symbionten, der sich nur schwer lösen lässt, ebenso wie Eminems auf dem Album immer wieder thematisierten früheren Abhängigkeiten von Opioiden und Alkohol.

Überraschend gefühlvoll richtet er gegen Ende gleich zwei balladeske Tracks, »Temporary« und »Somebody Save Me«, an seine Kinder und bittet sie um Verständnis für seine Absenzen und Ausfälle. So macht sich Eminem in Zeiten, in denen der Mode-Begriff Mental Health in aller Munde ist, auf gewisse Weise zum Patient Zero der Generation X. Mit der schamlos unterhaltsamen Offenlegung seiner Traumata könnte er letztlich sogar noch Empathiepunkte bei den Kids sammeln, die diesen Rap-Boomer nicht mehr auf dem Zettel haben.

Im schlimmsten Fall, Slim Shady würde sagen: im besten, bringt er sie mit geschmacklosen Witzen zum Lachen. Guilty conscience? Guilty pleasure! (8.2/10)

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Kurz abgehört:Y’akoto – »Part 4: The Witch«

Irgendwann hatte es Jennifer Yaa Akoto Kieck satt, immer wieder Fragen nach ihrem Anderssein beantworten zu müssen. Nach drei Alben, die die Hamburgerin in Deutschland veröffentlichte, packte sie ihre Sachen und zog nach Ghana, das Heimatland ihrer Eltern, wo sie bereits als Kind viel Zeit verbracht hatte. Sie wollte nicht mehr anders sein, sondern anders gesehen werden, sagte sie 2020 in einem Interview : »Ich wollte ein Gefühl von Zughörigkeit erfahren, ohne mich erklären zu müssen.« Nach einer längeren Pause veröffentlicht die 36-Jährige nun ihr viertes Album, das – zum Glück – nicht zu sehr die zurzeit gängigen Afrobeat- und Amapiano-Trends bedient, sondern nur dezent Akzente setzt: ein Beat hier, ein Rhythmus dort. Was sie stattdessen herausstellt, ist ihr Talent als stimmstarke R&B-Sängerin, die sich in Songs wie »Dreambug« und »Tiger« ihrer eigenen Widerständigkeit und Freiheitsliebe vergewissert. Mit »Lisa« und »IOU« integriert sie auch karibische und südamerikanische Elemente in ihren letztlich globalen, urbanen Soul-Sound, der nach Accra ebenso gut passt wie nach »London«. Im gleichnamigen Stück spürt sie den prekären Existenzen afrikanischer Migranten nach – Y'akotos vielleicht bester Song bisher. Wohin ihr internationaler Anspruch aber tatsächlich und längst nicht mehr gehört, ist ihr piefiges altes Zuhause, das immer nur das Fremde sieht, nie die kulturelle Bereicherung. (7.3/10)

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Clairo – »Charm«

Wie der »New Yorker« gerade in einem Porträt  über die Sängerin Clairo enthüllte, hat sich Claire Cottrill das Wort »Charm« unlängst auf die Knöchel einer Hand tätowieren lassen (ob auf der anderen Hand auch etwas steht, weiß man nicht). Charm, also Zauber, Anmut, Liebreiz, Faszination oder schlicht: Charme. So heißt auch das dritte Album der 25-Jährigen, die inzwischen von New York City aufs Land gezogen ist, »upstate«, wie man dort zu sagen pflegt. Dorthin also, wo das Leben einen ganz neuen Zauber erhalten kann. Wo man, mit etwas Glück, bei Garagenflohmärkten noch auf Schachteln mit Vinyls aus den Siebzigern stoßen kann, Obskuritäten aus dem Reich des Soft- und Yacht-Rock von Interpreten, die längst von der Zeit vergessen wurden. So charmant und verspielt nostalgisch klingt nun auch »Charm«. Ständig hüpfen aus den gemächlichen, von Nachmittagssonne durchfluteten Piano-Songs, die anheimelnd an Carole King und Carly Simon erinnern, vorwitzige, leicht angeschrägte Sounds hervor: ein viel zu lautes Moog-Synthesizer-Tröten in »Slow Dance« etwa oder ein ebenso analoges Elektro-Getröt in »Sexy to Someone«. Cottrill wurde 2018 mit ihrem Selfmade-Video und -Song »Pretty Girl« bekannt, in dem sie sich, betont gelangweilt, dem Niedlichkeitsgebot junger Sängerinnen verweigerte und damit eines ihrer Grundthemen etablierte. Ihr Debüt wurde von Vampire Weekends Rostam produziert, ihr zweites Album dann von Taylor-Swift-Intimus Jack Antonoff, jetzt durfte Leon Michels (El Michels Affair) Hand anlegen. Seine Retro-Grooves machen Clairos schläfrig hingehauchten Bedroom-Pop über die Suche nach etwas mehr Liebreiz nun erstmals sexy for everyone. (7.5/10)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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