EM 2024: "Handspiel-Dilemma" - Warum Deutschland keinen Elfer ...

7 Tage vor
EM

Eine strittige Handspiel-Szene in der Verlängerung überschattet Deutschlands bitteres EM-Aus gegen Spanien. Die Entscheidung von Schiedsrichter Anthony Taylor ist laut Regelwerk vertretbar - weshalb Julian Nagelsmann eine Regelrevolution fordert.

Es lief die 106. Minute in der Stuttgarter Arena, als das deutsche Team und Publikum lautstark aufschrie: Der eingewechselte Niclas Füllkrug legte einen langen Ball auf Jamal Musiala ab, der von der Strafraumkante aus rund 20 Metern Entfernung zum Tor abzog.

Der Schuss kam jedoch nicht allzu weit - und prallte deutlich erkennbar am Arm von Spaniens Linksverteidiger Marc Cucurella ab. Der Linksverteidiger ließ in seiner Abwehraktion den Arm seitlich am Körper hängen, zog ihn sogar kurz vor dem Kontakt noch leicht zum Körper hin, um ihn hinter dem Rücken zu verstecken.

Es gelang ihm nicht, der Aufschrei war nach dem Spiel groß - auch weil sich Schiedsrichter Anthony Taylor schnell festlegte und weiterspielen ließ, ohne sich die Szene noch einmal selbst am Monitor angeschaut zu haben.

Brisante VAR-Besetzung für Deutschland

„Ein klareres Handspiel gibt es nicht im Fußball“, wütete TV-Experte Michael Ballack bei MagentaTV, als er die Szene analysierte. „Das ist eine klare Fehlentscheidung.“ Die Entscheidung verwunderte den ehemaligen Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, zumal es vor rund einer Woche im Achtelfinale gegen Dänemark für viel weniger Handkontakt einen Elfmeter für Deutschland nach Eingriff des VAR gegeben hatte.

Damals flankte David Raum am Strafraumrand in den Sechzehner, Joachim Andersen fälschte die Flanke mit einem deutlichen zarteren Handspiel ab und wurde dafür bestraft. Auch damals hatte der Däne seine Hand in einer natürlichen Form vom Körper abgespreizt, als er zurück in seine Verteidigungsposition eilte.

Pikant: Gegen Dänemark assistierte Videoschiedsrichter Stuart Attwell seinem englischen Landsmann Michael Oliver, der nach dessen Eingreifen auf Elfmeter entschied.

Im Spiel gegen Spanien hieß der Videoassistent von Hauptschiedsrichter Anthony Taylor erneut Stuart Attwell, der seinen Kollegen diesmal nicht vor den Monitor bat, obwohl der Handkontakt gegen die Iberer doch viel größer war als im Dänemark-Spiel.

Warum Taylors Entscheidung vertretbar ist

Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich, der während der EM als Experte für MagentaTV im Einsatz ist, könne natürlich den Frust der Deutschen verstehen, stärkte dem Unparteiischen-Gespann aber auch den Rücken.

„Die Sachlage ist in der Tat so, dass der Schiedsrichter sachlich und unemotional entscheiden muss“, sagte Ittrich. „Man muss es regeltechnisch analysieren: Was macht der Spieler aus der Sicht des Schiedsrichters? Der Spieler zieht während des Schusses die Hand aus der Schussbahn zurück.“

Auch deshalb habe der Videoschiedsrichter nicht entscheidend eingegriffen. Der 45-Jährige sprach von einem „Handspiel-Dilemma“, es gebe einen Ermessungsspielraum im Fußball, eine Unklarheit in der Definition der Handspiel-Regel.

„Wenn man ihn pfeift, kann man sagen, das ist richtig, den kann man geben. Das ist das Ermessensdilemma bei der Handspielregel“, sagte Ittrich. „Diese Szene zeigt das ganze Dilemma der Regel. Ich bin eigentlich auch eher bei Handspiel, aber es nicht das Handspiel, bei dem du ihn rausschickst, weil du keine anderen Bilder hast. Da kann der Videoassistent nicht reingehen.“

Aus Regelsicht war die Entscheidung Taylors tatsächlich vertretbar. In Cucurellas Aktion lag keine Absicht vor, die Abwehrbewegung des Spaniers war als natürlich zu werten. Zudem traf Musiala den Chelsea-Profi aus kurzer Distanz, die geringe Spannung in seinem Arm ist ein weiteres Argument gegen einen Handelfmeter.

„Cucurellas Hand bewegt sich nicht vom Körper weg, sondern zum Körper hin, er zieht den Arm weg. Das ist ein großer Unterschied, und das gibt für mich den Ausschlag, hier nicht auf Elfmeter zu entscheiden.“ Taylors Entscheidung, weiterspielen zu lassen, „war absolut in Ordnung“, ordnete Experte Stefan Effenberg die Szene in seiner t-online-Kolumne ein.

Nagelsmann fordert Regel-Revolution

Dagegen lässt sich aber auch argumentieren, was auch Bundestrainer Julian Nagelsmann im Anschluss des Spiels auf der Pressekonferenz tat. Musialas Schuss wäre womöglich ohne Cucurellas Block ins Tor gegangen, nebensächlich aus deutscher Sicht, ob der Arm unter Spannung stand oder ob der Handkontakt aus kurzer Distanz zustande kam.

Cucurella verhinderte einen klaren Torschuss, wenn nicht sogar einen sicheren Treffer. In der aktuellen Regelauslegung wird jedoch nur das Handspiel an sich bewertet und nicht die mögliche Folge, weshalb Taylor keinen Elfmeter gab.

Im deutschen Spiel gegen Dänemark wäre Raums Flanke irgendwo im Sechzehner der Dänen gelandet, dort entschied sich der VAR für einen Eingriff. Die klare Linie fehle Nagelsmann, der eine Regelrevolution forderte.

„Ich will nicht rumjammern, aber die Bühne nutzen, um dafür zu werben, die Regel im Sinne des Fußballs anzupassen“, sagte Nagelsmann. „Es wäre schön, wenn wir bewerten würden, was mit dem Ball passiert. Wenn Jamal Musiala den Ball in die Stuttgarter Innenstadt schießt und Cucurella berührt ihn, würde ich nie einen Elfmeter haben wollen, aber der Ball kommt aufs Tor und er stoppt ihn klar mit der Hand. Da muss es eine andere Bewertungsgrundlage sein.“

Lienen kritisiert „erbärmliche Regel“

Bundesliga-Legende Ewald Lienen sprach bei ntv.de gar von einer „erbärmlichen Regel“, von der er seit Jahren „großer Gegner“ ist.

„Die Regel macht den Fußball kaputt, da wiederhole ich mich. Ich sehe da keine einheitliche Bewertung. Der eine pfeift es, der andere pfeift es nicht. Das Handspiel gegen Dänemark, von dem wir im Achtelfinale profitiert haben, war schon lächerlich. Aber das heutige Handspiel ist auch gemessen an dem, was wir in den vergangenen Jahren und auch bei dieser EM schon als Pfiff gesehen haben, ein glasklares. Und da muss ich Elfmeter pfeifen.“

Taylor pfiff ihn nicht - und Deutschland kassierte kurz vor Ende der Verlängerung das 1:2 durch Mikel Merino, das zum EM-Aus führte. Der englische Schiedsrichter äußerte sich nach Abpfiff nicht zur strittigen Situation.

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