Deutsche Nationalmannschaft: Ein Team ohne Klebstoff

15 Jun 2023
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Erstellt: 13.06.2023Aktualisiert: 14.06.2023, 04:49 Uhr

Von: Jan Christian Müller

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Ihm droht die Zeit abzulaufen: Bundestrainer Hansi Flick.

Ihm droht die Zeit abzulaufen: Bundestrainer Hansi Flick. © dpa

Es geht um Verlässlichkeit. Die bietet diese deutsche Nationalmannschaft schon seit fünf Jahren nicht mehr an. Ein Kommentar.

Wenn Rudi Völler Hansi Flick wäre und nicht Sportdirektor beim DFB, würde er mit einiger Sicherheit ernsthaft darüber nachdenken, ob er noch der Richtige ist für diese Aufgabe. Man weiß von Rudi Nationale, dass er seine Grenzen als Teamchef seinerzeit nüchtern beurteilt hat. So nüchtern, dass er 2004 nach dem Vorrunden-Aus bei der EM zurücktrat, ohne dass es irgendwelchen medialen Druck gebraucht hätte. Da hatte einer selbstkritisch gespürt, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.

Wären die aktuellen Protagonisten im Verband ehrlich mit sich und der sportlichen Situation, müssten sie folgerichtig zu dem Urteil kommen: So wie es sich gerade darstellt mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, sollte es keinesfalls fortgeführt werden. Dazu war der Offenbarungseid trotz des dank der individuellen Klasse von Kai Havertz ermühten 3:3-Unentschiedens gegen die Ukraine zu offenkundig.

Keine Ahnung, was Hansi Flick seinen Spielern erzählt - es ist hoffentlich gehaltvoller als das, was er öffentlich kundtut. Zweifel dürfen erlaubt sein. Es wäre jedoch zu kurz gehüpft, isoliert den Bundestrainer verantwortlich zu machen für manche auf diesem Anspruchsniveau unfassbare Stümperei, die auch am Montagabend wieder zu besichtigen war und die Flick in seiner Coachingzone mehrfach ratlos zurückließ.

Aber es ist natürlich sein Job, nach den multiplen misslungen Auftritten unter seiner Führung in der Nations League und dem Scheitern bei der WM, begleitet von einer auch von Flick mit zu verantwortenden demaskierenden Außendarstellung, das aus seinen Auserwählten herauszuholen, was er immer wieder öffentlich diagnostiziert: „Enorme Qualität“.

Da fragt man sich: Wo versteckt sie sich nur, diese „enorme Qualität“? Tatsächlich hat es nämlich den Anschein, als sei dort eine mittelmäßige Mannschaft mit einem mittelmäßigen Trainer auf der Suche nach Halt, Struktur und Strategie. Es gibt auch keinen Grund, angesichts dieser Einschätzung beleidigt zu sein, es gibt allenfalls guten Grund, zeitnah das Gegenteil zu beweisen.

Brüchige Dreierkette

Flick hat mit der Versuchsanordnung gegen die Ukraine, einer betrüblich brüchigen Dreierkette, nicht aus Überzeugung gehandelt, sondern aus Not. Er vertraut seiner Defensive aus gutem Grund nicht, die Gegner bekommen zu viele Großchancen, es fallen zu viele Gegentore, es bieten sich viel zu große Räume im Mittelfeld, die praktisch jeden Gegenangriff zur Gefahr werden lassen.

Flicks Anliegen, es mit einer Dreierkette zu probieren, ist auch mit dem Mangel an Qualität auf den Außenverteidigerpositionen zu erklären. Nach Ansicht der Partie gegen die Ukraine darf man aber zu dem Schluss kommen: Dass David Raum oder Marius Wolf auf den Flügeln noch von drei ebenfalls überforderten Männern hinter ihnen abgesichert werden, macht sie ebenso wenig zu internationalen Klassespielern wie die Tatsache, dass sie beide schnell rennen und manchmal gut flanken können.

Deshalb sollte es für das opulente Trainer-, Analysten- und Scoutingteam, das der klamme DFB für seine lahmende Elitetruppe beschäftigt, eine Überlegung wert sein, zur von Flick ohnehin bevorzugten Viererkette zurückzukehren und nach dem Beispiel der WM 2014, die bekanntermaßen zum Titel führte, einen Ochsenspieß aufzudrehen. Vier Männer, die sich auf die Defensivarbeit verstehen und das Einfallstor verschließen. Damals in Brasilien verirrte sich der grundsolide Benedikt Höwedes als linker Verteidiger zwar nur äußerst selten tief in des Gegners Hälfte, er verlor aber auch nicht wie David Raum Bälle an der Mittellinie, die man auf diesem Niveau schlicht nicht verlieren darf, er ließ sich nicht überlaufen, wie es Nico Schlotterbeck vor dem 1:2 passierte und er spielte keine hanebüchenen Rückpässe, wie es Julian Brandt vor dem 1:3 tat.

Es geht um Verlässlichkeit. Die bietet diese Mannschaft schon seit fünf Jahren nicht mehr an. Noch zwei ähnliche Enttäuschungen wie zuletzt am Fließband sollte es Freitag in Polen und Dienstag darauf gegen Kolumbien tunlichst nicht geben. Andernfalls wäre es hilfreich, wenn Julian Nagelsmann bis dahin noch nicht bei Paris Saint-Germain oder anderswo unterschrieben hätte und der DFB sich sicherheitshalber schon mal Gedanken machen würde, wie er das finanziell wuppen könnte angesichts der chronisch leeren Verbandskasse.

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