Cristiano Ronaldo in Tränen: Warum Fußballer öfter weinen sollten

3 Tage vor

Ronaldo zeigt Gefühle – und wird kritisiert

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Nach seinem verschossenen Elfmeter kamen Portugals Superstar Cristiano Ronaldo (links) die Tränen.

Cristiano Ronaldo - Figure 1
Foto RND

Quelle: IMAGO/SNA

In der Gesellschaft ist es inzwischen weitgehend akzeptiert, dass Männer weinen. An Profifußballer haben viele aber den Anspruch, Emotionen im Griff zu haben. Diese Haltung und dieses Männerbild sind gefährlich und gesundheitsschädigend, findet RND-Autorin Miriam Keilbach.

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Die 105. Spielminute in Frankfurt. Cristiano Ronaldo tritt zum Elfmeter an, der das Achtelfinale entscheiden könnte. Er schießt in die rechte untere Ecke – doch Jan Oblak ist da und wehrt den Ball mit beiden Händen an den Pfosten ab. Während Oblaks Mitspieler jubelnd auf ihren Keeper zulaufen, verbirgt Ronaldo sein Gesicht hinter den Händen. Seine Züge zeigen den Schmerz, den er gerade durchlebt, immer deutlicher. In der folgenden Pause der Nachspielzeit kullern die Tränen.

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Nun ergötzt sich die Menge in Spott, Häme und Hass. Es gebe nichts Schöneres als einen heulenden Ronaldo, heißt es da in vielen Kommentarspalten. Der Gockel, wie er gern verächtlich von jenen, die ihm Selbstverliebtheit vorwerfen, genannt wird, leidet. Und das Netz lacht. Einige werfen Ronaldo gar eine Inszenierung vor.

Männer weinen seltener als Frauen – weil sie sich das Weinen abtrainieren

Damit schaden all jene aber nicht nur Ronaldo, sondern sehr vielen Fußballspielern landein, landaus. Und sehr vielen Kindern. Ronaldo ist, ob man ihn mag oder nicht, in diesem Punkt ein Vorbild. Der Umgang mit ihm zeigt anderen, was sie erwarten könnte, sollten sie auf dem Platz weinen. Er zeigt: Wer heult, wird ausgelacht. Zeigt bloß keine Gefühle, sonst fällt die Meute über euch her.

Cristiano Ronaldo - Figure 2
Foto RND

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Es ist bekannt, dass Männer weitaus seltener weinen als Frauen. 17 Mal im Jahr fließen bei Männern im Schnitt die Tränen, 64 Mal bei Frauen – und das nicht aus biologischen Gründen, sondern aufgrund des kulturell anerzogenen Geschlechterbildes, wie der klinische Psychologe und Tränenforscher Ad Vingerhoets herausfand. „Studien ergaben, dass viele Männer sich das Weinen mit viel Selbstdisziplin regelrecht abtrainiert haben, um keine Schwäche zu zeigen“, sagte der Soziologe Alfred Gebert der „Nordwest Zeitung“.

Von seinen Gefühlen übermannt: Bastian Schweinsteiger bei seinem Abschiedsspiel mit der deutschen Nationalmannschaft am 1. September 2016 in Mönchengladbach

Quelle: imago/ActionPictures

Cristiano Ronaldo sendet ein Signal an Jungs und Fußballer

Auch wenn nicht abschließend geklärt ist, ob Weinen Stress abbaut oder ob es nur Erleichterung zur Folge hat, ist unbestritten, dass Weinen helfen kann. Wer Tränen unterdrückt, baut einen zusätzlichen emotionalen Druck auf, der sogar körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Atemnot und Gliederschmerzen nach sich ziehen kann. In einem Umfeld, in dem toxische Männlichkeit noch immer vorherrschend ist, und das sich nur sehr, sehr langsam von veralteten Männlichkeitsstereotypen lossagen kann, ist das gefährlich. Für aktuelle und künftige Fußballer, aber auch für Jungs und Männer in der Gesellschaft. Jeder weiß doch, wie befreiend Tränen sein können.

Der Profifußball und seine „leicht angestaubte Retromännlichkeit“

Die Kritik an Ronaldo ist mehr als das Draufhauen auf einen Superstar. Es offenbart auch die sexistischen Strukturen, die es im Männerfußball noch immer gibt. Echte Männer, die weinen nicht. Sodann nur naheliegend, dass in den Kommentaren zu lesen ist, Ronaldo heule „wie ein Mädchen“. Natürlich, weil nur Mädchen weinen dürfen – Jungs sind ja stark und emotionslos. (Außer, der eigene Verein steigt ab, dann ist es sozial vollkommen akzeptiert, zu weinen.)

Cristiano Ronaldo - Figure 3
Foto RND

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Joey Veerman wurde im Spiel seiner Niederländer gegen Österreich in der 36. Minute ausgewechselt und weinte danach auf der Bank.

Quelle: IMAGO/ANP

Der männliche Profifußball, sagt Almut Sülzle von der Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit (KoFas), sei immer noch mit einer „leicht angestaubten Retromännlichkeit“ verbunden. Deshalb werde alles, was auch nur im Ansatz als weiblich gelesen werden könne, abgelehnt. Das werde, so Sülzle, die zur Männlichkeit im Fußball promovierte, jungen Spielern schon früh beigebracht. Ein System, in dem der starke Mann, der unerschütterliche Rückhalt, die Maschine dominiert.

Fußball steht für Maskulinität – dazu passen Tränen nicht

„Rund um den Profifußball gibt es noch diesen Habitus, dass der Sport mit sehr maskulinen Eigenschaften assoziiert wird, Kampf, Dominanz, Stärke, Aggressivität“, sagt der Sportpsychiater Tobias Freyer. Zu diesen männlichen Attributen passt es nicht, Emotionen freien Lauf zu lassen, zu weinen. Gerade in Bezug auf das Männerbild hinkt der Profifußball der Gesellschaft enorm hinterher. Man sieht es an dem offiziellen Nichtvorhandensein von schwulen Profispielern, man sieht es daran, dass Spieler erst nach und nach über mentale Probleme und psychische Erkrankungen sprechen.

Doch das Nichtausleben von Emotionen und Gefühlen, das Verstecken von all jenen Eigenschaften, die als nicht männlich genug gelten, tragen zu einer Negativspirale bei: Die psychische Gesundheit leidet, der Druck wird größer, bis er irgendwann nicht mehr auszuhalten ist. Wer dieser Spirale entkommen will und weint, wird entweder im Netz an den Pranger gestellt oder in Bildergalerien über Fußballer, die weinen, gezeigt. Da, guck, der hat sich nicht im Griff.

Cristiano Ronaldo - Figure 4
Foto RND
Mit dem Erfolg wachsen die Erwartungen und der Druck

Je erfolgreicher ein Spieler, desto größer der Druck, desto größer die Erwartungen. Bei einem Cristiano Ronaldo oder Neymar Junior kommt hinzu, dass sie per se als Reizfiguren gelten. Sie mögen begnadete Fußballer sein und von vielen verehrt werden, doch genau das macht sie angreifbar in Momenten der Niedergeschlagenheit.

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Ronaldo spielt seine letzte Europameisterschaft. Der fünfmalige Weltfußballer ist 39 Jahre alt, spielt in den internationalen Vereinswettbewerben keine Rolle mehr, seit er in Saudi-Arabien anheuerte. Es ist sein letztes großes Turnier. Vor einigen Tagen wurde er medial noch für seine Bodenständigkeit gefeiert. Als er mit einem jungen Flitzer ein Selfie machte, als er ein Einlaufmädchen, das sichtlich ein großer Fan war, knuddelte. So nahbar. Nun ist es genau diese Nahbarkeit, die ihm vorgeworfen wird.

Warum Joey Veerman und Ruben Vargas weinen dürfen, Ronaldo aber nicht

Vielleicht besteht aber noch Hoffnung. Wie vor einigen Jahren in der Gesellschaft bröckelt nun auch im Profifußball langsam die toxische Männlichkeit. Vor wenigen Tagen gab es eine ganz ähnliche Szene, die allerdings ganz anders aufgenommen wurde. Auch da weinte ein Spieler mitten im Spiel, sogar in der ersten Halbzeit in der Vorrunde – bei einer Partie, die nicht über den Turnierverbleib entschied. Joey Veerman wurde gegen Österreich nach 36 Minuten vom niederländischen Trainer ausgewechselt, nachdem er sich etliche Abspielfehler erlaubt hatte. Veerman setzte sich auf die Bank, dann flossen die Tränen.

Er bekam viel Zuspruch und Mitgefühl. Ähnlich wie der Schweizer Ruben Vargas nach seinem verschossenen Elfmeter im Viertelfinale der Europameisterschaft 2021. Wohl auch, weil die Authentizität der Tränen weniger angezweifelt wurde. Und weil sie weniger polarisieren. In Bildergalerien sind sie trotzdem noch zu sehen – als zwei der wenigen, die heulen. Aber immerhin: Es ist ein Schritt zur Normalisierung von Gefühlsausbrüchen.

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