DFB-Team: Hansi Flick hat kaum Argumente - aber sollte wohl ...

22 Jun 2023
DFB-Team

Es gibt kaum mehr Argumente, die für eine Weiterbeschäftigung von Hansi Flick als Bundestrainer sprechen. Weil die naheliegenden Nachfolge-Kandidaten aber Haken haben und purer Aktionismus fehl am Platz wäre, sollte Flick seinen Job wohl oder übel trotzdem behalten.

Von allen elf bisherigen Bundestrainern hat mittlerweile nur mehr Erich Ribbeck einen noch schlechteren Punkteschnitt als Hansi Flick. Zwischen 1998 und 2000 holte Ribbeck in 24 Spielen durchschnittlich lediglich 1,5 Zähler. Nach dem kläglichen Vorrunden-Aus bei der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden war seine Amtszeit beendet.

Flick kommt in ebenso vielen Spielen wie Ribbeck auf einen marginal besseren Schnitt von 1,79. Auch er hat schon ein Vorrunden-Aus bei einem Turnier zu verantworten, in seinem Fall aber folgenlos. Seit der missratenen WM in Katar wurde alles sogar noch schlimmer: Fünf Spiele, nur ein Sieg, zuletzt zwei Niederlagen - und zwar nicht gegen Großmächte.

Flicks personelle und taktische Experimente gingen dabei, wie er selbst sagt, "in die Hose". Am offensichtlichsten die Abwehr-Dreierkette, die mit Emre Can sogar ein Spieler explizit kritisierte. Es war ein großer Fehler, dass Flick nicht spätestens bei der zurückliegenden Länderspiel-Phase für Kontinuität sorgte, der gesichtslosen Truppe eine wiedererkennbare Struktur gab und in Deutschland somit zumindest etwas Identifikation mit der Nationalmannschaft stiftete.

Ähnlich wie einst Ribbeck versprüht Flick bei seinen öffentlichen Auftritten nicht den Hauch von Aufbruchstimmung oder Hoffnung auf Besserung - wunderbar sichtbar im ratlosen RTL-Interview nach der 0:2-Niederlage gegen Kolumbien. Flicks Öffentlichkeitsarbeit scheint aktuell so desolat wie der Fußball seiner Mannschaft.

Nominell verfügt Flick übrigens über bessere Spieler als einst Ribbeck: Er kann auf 2020er Triple-Sieger vom FC Bayern München zurückgreifen (Joshua Kimmich & Co.), auf den Siegtorschützen vom Champions-League-Finale 2021 (Kai Havertz), auf den Kapitän des amtierenden Triple-Siegers (Ilkay Gündogan), auf einen Stamm-Innenverteidiger des größten Klubs der Welt (Antonio Rüdiger) und eines der vielversprechendsten Talente des Weltfußballs (Jamal Musiala). Klar, es fehlen Außenverteidiger und Mittelstürmer. Aber die Mannschaft hat eigentlich genügend Top-Spieler, um deutlich besser abzuliefern als zuletzt.

Trotz der Jobgarantie von Sportdirektor Rudi Völler hat Flick kaum Argumente für eine Weiterbeschäftigung - es führt aber wohl dennoch kein Weg daran vorbei, wie ein Blick auf die Situationen der naheliegenden Nachfolge-Kandidaten zeigt.

Jürgen Klopp

Mit seiner begeisternden Art wäre Jürgen Klopp der ideale Bundestrainer. Seit Jahren wird er an jedem neuerlichen DFB-Tiefpunkt als Retter gehandelt. Womöglich als einziger Kandidat könnte er mit Blick auf die Heim-EM eine echte Euphorie in Deutschland wecken. Das Problem: Klopp steht bis 2026 beim FC Liverpool unter Vertrag und wird diesen kaum brechen.

"Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass ich irgendwann mal Bundestrainer werde. Aber es muss passen. Und das hat es bisher nicht", sagte Klopp nach der Katar-WM der SportBild und verwies auf seinen Vertrag in Liverpool. Als "extrem verantwortungsbewusster Mensch" könne er in Liverpool nach eigener Auskunft aber nicht einfach sagen: "Ich bin jetzt weg hier."

Julian Nagelsmann

Seit seiner Entlassung beim FC Bayern München Ende März ist Julian Nagelsmann arbeitslos, er hätte also Zeit. Zuletzt scheiterten Engagements beim FC Chelsea und Paris Saint-Germain, angeblich schielt er insgeheim auf die Nachfolge von Carlo Ancelotti bei Real Madrid. Der Italiener wird wohl spätestens im Sommer 2024 Nationaltrainer Brasiliens. Der Job als Bundestrainer käme für den 35-jährigen Nagelsmann unterdessen zu früh, er wird die alltägliche Arbeit mit einer Mannschaft nicht aufgeben wollen.

Was zumindest theoretisch denkbar wäre: Nagelsmann übernimmt bis zur Heim-EM und widmet sich dann wieder einer Klub-Mannschaft. Was dafür sprechen könnte: Nagelsmanns enormes Selbstbewusstsein und Geltungsbedürfnis. Das Risiko: Sollte das Himmelfahrtskommando wie ob der aktuellen Gemengelage zu befürchten ist scheitern, bekäme seine Karriere die zweite empfindliche Delle in kurzer Zeit. Dieses Risiko kann sich Nagelsmann mit Blick auf seine weitere Laufbahn kaum leisten.

Matthias Sammer

Auch Matthias Sammer könnte die Zeit für den Job als Bundestrainer finden. Er wäre zwar eine stimmige Lösung, macht aber nicht den Eindruck, als ob er die Rückkehr ins operative Geschäft anstrebe - auch aus gesundheitlichen Gründen. Nachdem er in der Endphase seiner Tätigkeit als Vorstand Sport des FC Bayern 2016 einen Schlaganfall erlitten hatte, betonte er, dass er "diese Intensität nicht mehr will". Aktuell geht Sammer in seinen Tätigkeiten als Berater des BVB und DFB sowie als TV-Experte auf.

Rudi Völler

Als DFB-Sportdirektor könnte sich Rudi Völler gewissermaßen selbst zum Bundestrainer machen. Mit dieser Maßnahme würde er eine nicht vorhandene Aufbruchstimmung in Fußball-Deutschland aber in eine Abbruchstimmung verwandeln, sofern es so etwas überhaupt gibt.

Schon seine Bestellung zum Sportdirektor hatte eher für Verwunderung denn für Euphorie gesorgt. Als ehemaliger Bundestrainer steht Völler für die Vergangenheit, nicht für die Zukunft. 2002 führte er das DFB-Team zwar glücklich ins WM-Finale, 2004 hatte er aber ein EM-Vorrunden-Aus zu verantworten.

Ralf Rangnick

Ähnlich wie Klopp wurde auch Ralf Rangnick in der Vergangenheit wiederholt als möglicher Bundestrainer gehandelt, beim Wechsel von Joachim Löw zu Hansi Flick 2021 wäre er verfügbar gewesen. Rangnick selbst signalisierte Interesse, sogar Klopp sprach sich damals öffentlich für ihn aus.

Stattdessen entschied sich der DFB aber für Flick, woraufhin Rangnick den Trainerposten bei der österreichischen Nationalmannschaft übernahm - und dort für Aufbruchstimmung sorgte. Aktuell führt Österreich seine EM-Qualifikationsgruppe vor Belgien und Schweden an. Dieses Projekt wird er nicht abbrechen.

Louis van Gaal

Alle elf bisherigen Bundestrainer kamen aus Deutschland, womöglich würden Impulse aus dem Ausland für etwas Erfrischung sorgen. Eine charmante Lösung wäre theoretisch Louis van Gaal. Der Niederländer arbeitete einst erfolgreich für den FC Bayern, schuf dort die Grundlagen für den gerade austrudelnden Erfolgslauf.

Außerdem bewies van Gaal auch schon seine Fähigkeiten als Turnier-Trainer, indem er die niederländische Nationalmannschaft 2014 ins WM-Halbfinale und 2022 ins Viertelfinale führte. Seine letzte Amtszeit als Bondscoach war überschattet von seiner Krebserkrankung. Kaum vorstellbar, dass sich der 71-Jährige nochmal dem Stress als Cheftrainer aussetzt.

Sollte sich abgesehen von diesen aus unterschiedlichen Gründen unwahrscheinlichen oder unpassenden Optionen überraschend eine verfügbare Königslösung auftun, muss der DFB sofort handeln. Ansonsten wäre purer Aktionismus trotz aller offensichtlichen Mängel nur ein Jahr vor der Heim-WM nicht zielführend. Flick rauszuschmeißen, einfach nur um irgendwie zu reagieren, wäre sinnlos.

Die Probleme des DFB sind so groß und jahrelang gewachsen, dass sie ein einfacher Trainerwechsel in der Kürze der Zeit ohnehin kaum beheben wird. Das mag desilussionierend wirken, ist aber die bittere Wahrheit. Dasselbe Muster hat sich in dieser Saison auch schon beim FC Bayern München gezeigt. Die Missstände unter Julian Nagelsmann waren offensichtlich, unter dem ausgewiesenen Fachmann Thomas Tuchel wurde es aber nicht besser.

Und zur Erinnerung: Im Vorfeld der Heim-WM von 2006 stand Jürgen Klinsmann phasenweise massiv in der Kritik, bisweilen wurde auch seine Entlassung gefordert. Die sportlichen Vorwürfe? Zu viele Experimente, kein Abwehrkonzept, verunsicherte Spieler, schlechte Testspiel-Ergebnisse - unter anderem Pleiten gegen die Türkei und die Slowakei sowie das Debakel gegen Italien kurz vor Turnierstart. Das Ergebnis ist bekannt.

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