Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt neue EU ...

Von der Leyen ernennt für die sichtbarsten Posten überdurchschnittlich viele Frauen – und sendet ein klares Signal nach Moskau

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Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Die Kommissionspräsidentin hat ihr neues Team präsentiert: Der Vertreter der Fratelli d’Italia sorgt im Parlament für rote Köpfe. Die Bedeutung der Schweiz zeigt sich in einem neunseitigen Dokument.

EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen hat am Dienstag in Strassburg die neuen Mitglieder der Kommission vorgestellt.

Sean Gallup / Getty

Noch am Montag war nicht klar, ob EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen tags darauf ihr neues, 27-köpfiges Team vorstellen kann. Am Dienstagmorgen liess sie anlässlich der Parlamentssession in Strassburg dann die Katze aus dem Sack: Sie gab die Namen der neuen Kommissare bekannt und teilte jeder Person ein Dossier zu. Jedes EU-Mitgliedsland stellt eine Vertretung.

Die Verteilung der Kommissionsposten entspricht einem veritablen Puzzlespiel, bei dem von der Leyen verschiedene Kriterien zu berücksichtigen hatte: geografische Ausgewogenheit, nationale Interessen, parteipolitischer Hintergrund oder die Geschlechterverteilung.

Besonderes Augenmerk galt dabei der Wahl der Vizepräsidenten, die innerhalb des Gremiums Querschnittsfunktionen wahrnehmen: Es sollen deren sechs sein – die Hälfte davon aus Staaten, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der EU beitraten.

Fittos Partei war gegen von der Leyen

Die Sozialistin Teresa Ribera erhält das einflussreiche Wettbewerbs-Portfolio. Die Liberale Kaja Kallas ist – wie bereits zuvor bekanntgemacht – für die EU-Aussenbeziehungen zuständig. Raffaele Fitto wird mit dem Dossier für Kohäsion und Reformen ausgestattet. Henna Virkkunen (Sicherheit und Demokratie), Roxana Mînzatu (Bildung und Kultur) und Stéphane Séjourné (Wohlstand und eine europäische Industriestrategie) komplettieren das Sextett.

Bei Letzterem wurde das Portfolio mit besonderer Spannung erwartet: Frankreich hatte ihn erst am Montag nominiert, nachdem von der Leyen gehörig Druck aufgesetzt hatte. Sie hatte sich mit dem ursprünglichen Kandidaten, dem bisherigen Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, überworfen. Als Gegenleistung stellte sie Frankreich eine bedeutsamere Rolle in Aussicht – und sandte gleichzeitig die unmissverständliche Botschaft in die europäischen Hauptstädte, dass sie in den eigenen Reihen keine Rebellen duldet.

Die Wahl des Italieners Fitto sorgt derweil für Aufsehen, weil seine rechtskonservativen Fratelli d’Italia von der Leyen als Kommissionspräsidentin verhindern wollten. Die Sozialisten, die Grünen und die Liberalen im EU-Parlament, das die Kommissare noch bestätigen muss, kündigten umgehend Widerstand an. Von der Leyen ist es offensichtlich ein Anliegen, das jüngst schwierige Verhältnis mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu entspannen und gleichzeitig zu signalisieren, dass eine entschlossene Migrationspolitik – Melonis Steckenpferd und eine der Hauptsorgen der europäischen Bevölkerung – auch zu ihren Prioritäten gehört.

Von 22 auf 40 Prozent Frauen

Auffällig ist die Geschlechterverteilung im Vizepräsidium: vier Frauen und zwei Männer. Im Juli war von der Leyen mit der Ansage angetreten, ein ausgeglichenes Kommissarskollegium präsentieren zu wollen. Die Hauptstädte, welche die Nominationen vorzunehmen hatten, ignorierten die Bitte jedoch grösstenteils.

Mit veritablen Kuhhandeln – Kandidatentausch gegen wichtigeres Dossier – gelang es von der Leyen, die Frauenquote über die gesamte Kommission von ursprünglich 22 Prozent auf 40 Prozent zu steigern, wie sie anlässlich der Pressekonferenz sichtlich stolz verkündete. Weil die Männer dennoch in der Mehrzahl bleiben, hat von der Leyen nun bei den besonders exponierten Vizepräsidiums-Posten gegengesteuert.

Ein einziger Satz zur Schweiz

Die verbleibenden 20 Kommissare sind sich formell gleichgestellt: Bei der politischen Bedeutung der verschiedenen Positionen gibt es aber ein starkes Gefälle. Zentral ist etwa der Budget-Posten, den der Pole Piotr Serafin bekleidet. Der frisch geschaffene Verteidigungs-Posten geht an den Litauer Andrius Kubilius. Ebenfalls neu ist das Dossier für den Mittelmeerraum, das die Kroatin Dubravka Suica erhält. Der Österreicher Magnus Brunner wird Kommissar für Inneres und Migration.

Indem sie Vertreter aus dem Baltikum, Osteuropa und Skandinavien mit wegweisenden Dossiers ausstattet, sendet von der Leyen das Signal an Russland, dass die EU im andauernden Krieg weiterhin klar hinter der Ukraine steht. Dazu passt auch, dass der Vertreter Ungarns – das Kreml-freundlichste Land der EU – für das wenig prickelnde Dossier für Gesundheit und Tierschutz vorgesehen ist.

Der Slowake Maros Sefcovic, der Doyen der EU-Kommission, verliert zwar seinen Posten als Vizepräsident, hat als neuer Handelskommissar aber weiterhin eine wesentliche Rolle inne – und er behält die Aufsicht über die andauernden Verhandlungen mit der Schweiz. Dass diese aus EU-Optik nicht höchste Priorität geniessen, zeigt sich an seinem «Auftragsbrief», den er wie alle anderen Kommissare von Ursula von der Leyen erhalten hat: In dem neunseitigen Dokument ist der Schweiz ein einziger Satz gewidmet.

EU-Parlament ist nun am Zug

In trockenen Tüchern ist die neue Kommission noch nicht – nun kommt das EU-Parlament zum Zug. Die zuständigen Ausschüsse werden die 26 designierten Kommissare in langwierigen Anhörungen prüfen, im Jargon «grillen» genannt. Dabei wird auch die Parteiverteilung unter die Lupe genommen: Gemäss von der Leyens Vorschlag dominiert die EVP-Parteifamilie, die Siegerin der Europawahlen von Juni, mit 14 Vertretern die kommende Kommission. Erstaunlich prominent vertreten sind auch die Liberalen, die trotz Wahlschlappe fünf Kommissare stellen dürfen.

Wann die Parlaments-Hearings stattfinden, ist noch offen. Üblicherweise werden danach ein paar wenige Kandidaten ausgetauscht, die bei den Volksvertretern durchgefallen sind. Das offizielle Ziel ist weiterhin, dass die neue EU-Kommission Anfang November die Arbeit aufnehmen kann. Angesichts des engen Zeitplans scheint der 1. Dezember aber realistischer.

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