Thomas Tuchel: Vielleicht findet er in England endlich seinen Platz

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Wie gut Thomas Tuchel ist, weiß man nach dem peinlichen Kapitel FC Bayern weniger denn je. Nun übernimmt er eine gewaltige Aufgabe: Er soll England zu alter Größe führen.

16. Oktober 2024, 14:32 Uhr

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Erfolg alleine wird für Tuchel in England nicht reichen – sein Fußball muss auch noch Spaß machen. © Alexander Hassenstein/​Getty Images

Eine Katastrophe sei er gewesen! Das soll Uli Hoeneß nun Thomas Tuchel bei einer vereinsinternen Versammlung hinterhergerufen haben, so steht es in der aktuellen Sport Bild. Vielleicht ist es nur Zufall, dass dieser Bericht auf den Tag fällt, an dem Tuchel die Topnachricht im Weltfußball ist. Er übernimmt die Nationalmannschaft Englands.

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Darauf kann Tuchel stolz sein und die gewohnt stilvolle Wortmeldung vom Tegernsee ignorieren. Sie erinnert allerdings an dieses für alle Seiten peinliche Kapitel beim FC Bayern, das im Mai nach anfänglicher Schockverliebtheit und anschließenden Irrungen und Wirrungen zu Ende ging. Und das einige Zweifel an Tuchel hinterließ oder verstärkte.

Schon vor seinem Wechsel nach München im März 2023 war nicht richtig klar, wie gut der Trainer Tuchel ist. Er war bei Paris Saint-Germain und bei Chelsea – aber zählt er wirklich zur allerersten Reihe? Jetzt weiß man es weniger denn zuvor.

Tuchel hatte den Verein überschätzt, aber auch sich selbst. Er wollte die Bundesliga dominieren, doch unter ihm riss die Münchner Meisterserie, die mehr als zehn Jahre dauerte. Die Bayern wurden vergangene Saison nicht mal Zweiter. Schon 2023 wäre es ohne das Last-Minute-Tor von Jamal Musiala und dem Last-Minute-Scheitern von Borussia Dortmund schiefgegangen.

Es waren nicht nur die Resultate, die Tuchel ein schwaches Zeugnis ausstatteten. Kaum ein Spieler entwickelte sich unter ihm weiter. Die Abwehr war unsortiert, der Sturm griff ohne Plan an. Zudem äußerte er sich manchmal kryptisch, trat wie ein Besserwisser auf und war unsouverän im Dauerstreit mit TV-Experten wie Didi Hamann.

Unter seinem Nachfolger Vincent Kompany mag das Feintuning der Mannschaft noch nicht stimmen, aber sie scheint wieder besser geführt. Spieler wie Alphonso Davies und Dayot Upamecano scheinen endlich Fortschritte zu machen. Die Bayern sind in der Liga wieder vorne.

Er wurde überall schnell gefeuert

Das wird man alles auch in England mitbekommen haben. Dort kennt man natürlich Tuchels ganze Vita. Er kann Erfahrung an großen Standorten vorweisen. Mit Dortmund wurde er Pokalsieger, mit Paris erreichte er das Finale der Champions League, mit Bayern übrigens fast auch. Und man hat natürlich vor Augen, dass Tuchel mit dem FC Chelsea 2021 die Champions League gewann. Nachdem er bald darauf wegen einer Laune des Investors gehen musste, stürzte Chelsea ins Mittelfeld der Tabelle. In England hielten viele seine Entlassung für einen Fehler. Man hat ihn vermisst.

Auffällig ist allerdings, dass Tuchel (im Gegensatz zu Jürgen Klopp) nach seinen Anfangsjahren in Mainz überall schnell gefeuert wurde, trotz seiner Erfolge. Nach seiner ersten Station in Mainz hielt er sich nirgends viel länger als zwei Jahre. Strategische Aufbauarbeit ist aber nur langfristig möglich. Das wirft auch eine andere Frage auf: Wie groß war sein Anteil bei Chelsea, wo er im Moment des Triumphs erst vier Monate am Werk war?

Tuchel muss noch den Platz finden, an den er passt. Jetzt ist er in England. Dort soll er die alte Fußballnation zu alter Größe führen. Das ist an sich schon eine gewaltige Aufgabe. Noch komplizierter wird sie, weil sein Vorgänger alles andere als erfolglos war. Gareth Southgate war sogar der erfolgreichste Trainer seit den Sechzigerjahren, als England, mit leichter Unterstützung von der Seitenlinie, seinen einzigen Titel gewann. Southgate schied nie vor dem Viertelfinale aus, gleich zweimal hintereinander stand er im EM-Finale, im Juli unterlag er in Berlin kurz vor Schluss den überragenden Spaniern 1:2. Niemand seiner Vorgänger kann eine solche Bilanz vorweisen.

Southgate stand allerdings wegen seines defensiven Stils in der Kritik. Man verlangte, dass er dominant spielt wie Spanien. Dabei hat der englische Kader zwar hohen Marktwert, aber große sportliche Lücken. Einen Spielmacher, analog zu Toni Kroos oder İlkay Gündoğan, hat England traditionell so wenig wie Verteidiger, die sich mit modernem Spielaufbau auskennen. Geschweige denn einen guten Tormann. Mit diesen Spielern ist viel mehr als pragmatischer Fußball kaum möglich.

Es ist wie beim Brexit

Ob Thomas Tuchel darauf eine Antwort findet, darf er jetzt beweisen. Es zählt zu den Kernkompetenzen eines Trainers, die Stärken und Schwächen seiner Fußballer richtig einzuschätzen. In München hat es genau daran gehapert.

Erschwerend kommt hinzu, dass englische Fans und Medien, verwöhnt von der Premier League, wo Stars aus aller Welt spielen, attraktiven Fußball erwarten. Sonst sinkt die Laune rapide. Es ist wie beim Brexit: Das Land überschätzt seine Ressourcen und träumt vom alten Empire. An den hohen Erwartungen sind schon Sven-Göran Eriksson und Fabio Capello verzweifelt, die jeweils mit der angeblichen Supergeneration nichts rissen.

Das heißt: Erfolg alleine wird für Tuchel nicht mal reichen, sein Fußball muss auch noch Spaß machen. Wenn er Pech hat, macht er also gute Arbeit und man wird dennoch unzufrieden sein. Nicht auszuschließen, dass die Engländer mit Verspätung erkennen werden, was sie an Southgate hatten. Bei der 1:2-Heimniederlage gegen Griechenland am vergangenen Donnerstag bekamen sie eine erste Idee davon.

In England geht es zudem nicht so zimperlich zu wie in Deutschland. Die Daily Mail begrüßte Tuchel mit dem Hinweis: "Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten." Vielleicht wird sich Tuchel bald Didi Hamann zurückwünschen.

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