Türkei – Georgien: Dafür gehen Leute ins Stadion

19 Jun 2024

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Foto ZEIT ONLINE

Sturzregen, Spannung, Traumtore: Gegen Georgien gewinnt die Türkei das bisher aufregendste Spiel der EM. Und ihre Fans belegen, dass nicht nur ein Team Heimvorteil hat.

19. Juni 2024, 6:26 Uhr

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Ekstase in Dortmund, nicht erst beim 3:1 © Ina Fassbender/​AFP/​Getty Images

Die Kunst des Pfeifens ist uralt, aber niemand beherrscht sie wie türkische Fußballfans. Sie pfeifen aus Tausenden Mündern, auf zwei Fingern, auf vieren, ganz egal, aber immer gellend. Ohrenbetäubend. Ihre Pfiffe können die Luft in einem Stadion füllen, bis nichts anderes mehr darin liegt. Und sie pfeifen immer, wenn es eine Chance gibt, den Gegner zu stören.

Als der Georgier Chwitscha Kwarazchelia am Dienstagabend um kurz vor acht Uhr ein paar Schritte vor dem Ball stand – wartend, den Blick starr auf den Strafraum gerichtet und möglichst nicht auf die erregte, rote Menschenmasse dahinter –, da pfiffen die türkischen Fans noch einmal etwas lauter als in den zwei Stunden zuvor. Es war, wussten sie, die letzte Chance für die Georgier, ihnen den Sieg zu nehmen. Sie wollten noch einmal da sein, akustisch mithelfen, das Tor ihrer Mannschaft zu verteidigen.

Kwarazchelia lief zum Freistoß an, ein Schritt, zwei, drei, vier, der Ball segelte in den Strafraum, rutschte über einen georgischen Haaransatz, schepperte an den Pfosten. Sprang zurück. Wieder war da ein Georgier und schoss – ein türkischer Verteidiger warf sich in den Ball.

Eine Minute später mussten die Türken nicht mehr pfeifen. Da schrien sie vor Glück, weil Kerem Aktürkoğlu auf das leere georgische Tor zulief und den Ball zum 3:1 hineinschob. Die türkischen Ersatzspieler rannten auf den Platz, einer rutschte auf den Knien meterweit über den vom Regen durchweichten Rasen. Ein Moment des Fußballvollrauschs.

Es war das passende Ende für ein rauschhaftes Spiel. Nicht die Franzosen, die Engländer oder Spanier, nein: Türkei und Georgien lieferten sich das aufregendste Spiel dieser EM-Vorrunde. Die Türkei gewann es, weil ihr Mittelfeldspieler Arda Güler einen großen Moment hatte. Und sie gewann es sicher auch wegen ihres Heimvorteils.

Kaan Ayhan, der an diesem Abend im türkischen Mittelfeld arbeitete, hatte das schon vor Monaten angekündigt, nach dem Spiel der Türken gegen Deutschland: Dass es auch für die Türkei eine Heim-EM werden würde. Julian Nagelsmann gefiel die Aussage damals nicht. Aber wenn die Türkei im Ruhrgebiet spielt, wo fast eine Million türkischstämmige Menschen leben, und wenn dann Kaan Ayhan aus Gelsenkirchen neben Hakan Çalhanoğlu aus Mannheim im zentralen Mittelfeld spielt, neben Kenan Yıldız, der in Regensburg geboren wurde, dann ist da natürlich etwas dran.

Das erste EM-Spiel in Georgiens Geschichte

Wer an diesem Tag durch Dortmund lief und durchs Ruhrgebiet fuhr, der gewann jedenfalls schnell den Eindruck, dass es hier eine Heim- und eine Auswärtsmannschaft gab. Vor dem Spiel schoben sich rote Menschenzüge durch die Fußgängerzonen; nicht alle wollten zum Stadion, nicht alle hatten Tickets. Wegen einer Unwetterwarnung war das Fanfest abgesagt, also verteilte man sich ein wenig, war einfach da. In Geschäften und an Straßenecken gab es türkische Shirts und Flaggen zu kaufen; wer noch nicht versorgt war, hielt an und deckte sich schnell ein. Vor einem Laden mit besonders großem Flaggenangebot stand eine Verkäuferin in Türkei-Shirt und Türkei-Fischerhut, klingelnd, um die Letzten anzulocken, die vielleicht doch noch ohne Fankleidung unterwegs waren. Sie selbst sei gar keine Türkin, sagte sie. Aber an so einem Tag passt man sich eben an.

Als sich alle versorgt und durch den Sturzregen gekämpft hatten, der Dortmund zwei Stunden vor dem Spiel geflutet hatte, begann das große Singen, Klatschen, Brüllen. Und das Pfeifen. Schon bei der georgischen Aufstellung und der Hymne, was auf der Haupttribüne georgische Fans in Schimpftiraden ausbrechen ließ und was auch Georgiens Trainer Willy Sagnol später als respektlos kritisierte. Es war hitzig hier und da, weit vor Spielbeginn gab es im Westfalenstadion gar eine Prügelei.

Dieses Spiel hatte Bedeutung. Für Georgien, ein Land mit wenig mehr Einwohnern als Berlin, war es das erste EM-Spiel seiner Geschichte. Und die türkische Mannschaft musste mit dem Druck der Erwartungen jener vielen Menschen im Stadion umgehen, die dieses Spiel lange herbeigesehnt hatten. Man hörte diese Erwartungen, vermengt mit Euphorie, in den "Türkiye, Türkiye"-Rufen, die von den Tribünen Richtung Rasen schallten.

Sie konnten damit umgehen. Sie waren nicht gehemmt durch die Kulisse, im Gegenteil, sie verlieh ihnen Energie. Und sie spielten schnell und direkt zu Beginn, immer mit dem Willen, aufs Tor zu schießen. Gerade auf der linken Seite, wo der junge Kenan Yildiz und der Außenverteidiger Ferdi Kadıoğlu miteinander kombinierten, oft im Zusammenspiel mit Hakan Çalhanoğlu, dem Lenker des türkischen Spiels.

Nach zehn Minuten wuchtete Kaan Ayhan den Ball mit dem Vollspann an den Pfosten, es war schon die dritte Chance für die Türkei. Auf den Tribünen, wo niemand auch nur eine Sekunde saß während dieses Spiels, spürten sie, dass ein Tor nahte.

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