Ein Nachruf auf Tom Verlaine

Der Songschreiber starb am Samstag nach kurzer Krankheit mit 73 Jahren in New York. Mit seinen musikalischen Experimenten trieb er den Übergang von Rock zu Punk voran

Das spinnengliedrige Gitarrenspiel von Tom Verlaine erkannte man vom ersten Ton an. London, 1977.

Das spinnengliedrige Gitarrenspiel von Tom Verlaine erkannte man vom ersten Ton an. London, 1977.

Gus Stewart / Redferns / Getty

Über die Toten nur Gutes, das geht nicht. Und sonst besser nichts, das geht natürlich auch nicht. Vor allem dann nicht, wenn die Toten als Lebendige Bemerkenswertes geleistet haben.

Dieses Dilemma haben wir bei einem verstorbenen Amerikaner: dem Sänger, Gitarristen und Songschreiber Tom Verlaine aus New York. Mit seinem einflussreichen Quartett Television überführte er den Rock und dessen bluesartige Grundierung in eine lakonische, von Humor, Schreckensbildern und surrealistischen Betrachtungen geschärften Musik, die klang wie Amphetamin unter Neonlicht.

Die vier Gründungsmitglieder Tom Verlaine, Richard Lloyd, Richard Hell und Billy Ficcarre trafen in New York aufeinander. Wie die Gruppen Talking Heads, Blondie, die Ramones oder Patti Smith schlossen sie sich einer neuen, hellwachen Musikrichtung an, die mit dem geschwollenen Hippiezeug nichts zu tun haben wollte.

Verlaine schrieb die Texte der Band, die gleichzeitig introvertiert poetisch und auf lakonische Weise realistisch daherkamen. Und er sang sie mit unverwechselbarer, näselnd-neurotischer Stimme, die an Lou Reed gemahnte. Dazu kam sein spinnengliedriges, stark vom Jazz beeinflusstes Gitarrenspiel, das man vom ersten Ton an erkannte und bei dem er sich mit dem brillanten Virtuosen Richard Lloyd an der zweiten Gitarre aufregend duellierte.

Er wollte der Boss sein

Aber Verlaine war nicht der vergeistigte Typ, für den er gehalten werden wollte. Der Mann hiess eigentlich Thomas Miller und zog sich den Namen des französischen Symbolisten Paul Verlaine über, um sich interessant zu machen.

Hier fangen die Probleme an: Denn Miller alias Verlaine war ein Egozentriker und unfähig, sich einem Kollektiv unterzuordnen. Verlaine und der Bassist Richard Hell waren als Schulfreunde in der Provinz von New Jersey aufgewachsen, wobei Ersterer Letzterem schon bald auf die Nerven ging.

Verlaine besass lyrisches und musikalisches Talent. Das war bemerkenswert, keine Frage. Als Kollege in einer Gruppe junger rivalisierender Kollegen war er für die anderen nicht zu ertragen. Der Sänger sprengte die Band, weil er ihr Boss sein wollte, und dazu waren die drei anderen zu ehrgeizig und selbst zu begabt.

Darum bleibt von Television nur das erste Album «Marquee Moon» von 1977 als Vermächtnis übrig. Immerhin beeindruckte dieses den englischen Musikkritiker Nick Kent dermassen, dass er seine mehrseitige ekstatische Kritik im Fachblatt «New Musical Express» gleich als Titelgeschichte durchdrückte. Und das Album zu einem der einflussreichsten seines Genres hochstemmte.

Brillanter Solist

Ein anderer Kritiker jener Punkjahre, der jeden Anflug von Selbstüberhöhung sarkastisch kommentierte, durchschaute Verlaines Hang zur Pose sofort. Weshalb Lester Bangs es genoss, den Dichtergitarristen nicht auf der Bühne zu sehen, sondern in der Glanzlosigkeit eines lokalen Waschsalons. Was er natürlich sofort im «Village Voice» publizierte, dem damaligen Szenenblatt von New York City. «Und jetzt», rief er dem Musiker quer durch den Saal zu: «Washday, Tom?»

Nach dem zweiten Album fiel die Band auseinander. Verlaine begann eine lange, teilweise anregende Solokarriere, die ihn auch nach Zürich brachte. Man hat das damalige Interview mit ihm als unstrukturierte und letztlich nicht brauchbare Abfolge von Assoziationen in Erinnerung. Das Konzert am Abend gelang grossartig, jedenfalls solange Verlaine alleine solieren durfte; er hatte seine Egoprobleme offensichtlich importiert. Am Samstag ist Verlaine in New York 73-jährig verstorben.

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