Ära nach Manuel Neuer Ter Stegen hat viel vor als Deutschlands neue Nummer 1

Bonn · Marc-André ter Stegen hat als ewig Wartender eine der ungewöhnlichsten Karrieren in der Nationalmannschaft. Mit 32 Jahren ist er jetzt am Ziel – und will als Stammtorwart Erfolg haben.

Alte und neue Nummer 1: Marc-André ter Stegen (links) beerbt Manuel Neuer im deutschen Tor.

Foto: dpa/Marcus Brandt

Es verhält sich ja nicht so, dass sich die beiden bewusst gemieden hätten. Ist ja auch schwer möglich in einem körperlichen Beruf mit hohem Kontaktpotenzial, zumal Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen seit Jahren nebeneinander trainierten, wenn es sie im Dienst der Nation zusammenführte. Im Spiel jedoch wurde aus dem Nebeneinander zumeist ein Hintereinander, denn ter Stegen musste in aus seiner Sicht unschöner Regelmäßigkeit dem Torwart-Kollegen den Vortritt lassen, wenn es um die Besetzung des deutschen Tores ging. Die Nationalelf und ter Stegen, das war über zwölf Jahre eine unglückliche Liaison, seit der gebürtige Mönchengladbacher sein ebenso unglückliches Debüt gegeben hatte beim 3:5 gegen die Schweiz. Und selbst wenn die beiden besten deutschen Keeper der Neuzeit mal nicht um die Erstbesetzung in diesem Torhüter-Theater buhlten, auch direkte Aufeinandertreffen mit ihren Vereinen verursachten bei ter Stegen schon mal schmerzhafte Auswirkungen wie ein 2:8 seines FC Barcelona vor vier Jahren in der Champions League gegen den FC Bayern, was Neuer einen Trost entlockte. Es tue ihm „etwas leid für Marc, dass er so viele Tore kassiert hat", sagte also der Weltmeister von 2014 damals, und er sprach dies aus ohne einen Anflug von Überheblichkeit.

Zwar hat dieses Privatduell die Jahre in DFB-Kreisen überdauert, doch obschon es ter Stegen auf 40 Länderspiele bringt, bei großen Turnieren schloss sich die Tür vor ihm immer, wenn da einer wie Neuer sich aufbaute wie ein grimmiger Türsteher vor der Promi-Disco P1. Als stünde ter Stegen vor dem Tor und fände weder den Weg hinein noch den Grund heraus, warum er es nicht schafft. Diese nahezu tragische Geschichte scheint für den 32-Jährigen nun an ein Ende gelangt zu sein, denn für die deutsche Nationalmannschaft steht nach den Rücktritten von Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Thomas Müller und eben Neuer ein neuer Lebensabschnitt an. Was den Vorteil für ter Stegen hat, dass der Türsteher weitergezogen ist. Seine Beförderung zur „klaren Nummer 1“, wie es Bundestrainer Julian Nagelsmann formulierte, hatte ter Stegen vor den ersten Länderspielen in der Post-EM-Ära in der Nations League am Samstag (20.45 Uhr/ZDF) in Düsseldorf gegen Ungarn und drei Tage später in Amsterdam gegen die Niederlande nun im DFB-Camp in Herzogenaurach zu moderieren.

Ter Stegens kollegiales Verhalten

Jahrelang verhielt sich die Beziehung der beiden Weltklassekeeper zueinander wie jene des Seniorchefs eines Weltunternehmens zum Junior, den er zwar duldet, aber lediglich mit Befugnissen ausstattet, die jeder Liftboy für sich reklamieren darf. Nun aber sei es natürlich „ein anderes Gefühl“, sagte der Barça-Kapitän. Den Nimbus als Nummer 1 – und auch viele positive Äußerungen von DFB-Kollegen dazu – empfindet er als „Balsam für die Seele“, er sei froh, dass „die Zeit des Wartens jetzt vorbei ist. Ja, ich freue mich auf die neue Aufgabe, auf das, was kommt. Ich möchte erfolgreich sein“.

Vielleicht ließe sich besser sagen, die lange Zeit des Darbens, die wohl nicht jeder so gleichmütig und kollegial ertragen hätte. Es gab ja schon Zeiten, da beschimpfte der bei der WM 1986 nicht berücksichtigte Uli Stein den damaligen Teamchef Franz Beckenbauer als „Suppenkasper“, nicht zu vergessen auch die beinahe zur Blutfehde ausgeartete Auseinandersetzung zwischen Jens Lehmann und Oliver Kahn, dem früheren Vorbild ter Stegens. Er selbst tickt da anders. Der frühere Gladbacher Borusse handele so, wie er es von anderen erwarte, sagte er einmal, „dass man die Situation akzeptiert, dass man loyal ist, auch wenn man mal eine persönlich negative Erfahrung machen muss. Das verstehe ich unter Respekt“.

Anerkennung der DFB-Kollegen

Was ihm die bewundernde Anerkennung mindestens seiner DFB-Kollegen einbrachte. „Man muss schon sagen, dass Marc das herausragend gemacht hat die ganzen Jahre, dass er sich immer in den Dienst der Mannschaft gestellt hat. Gerade als zweiter Torwart ist das sehr schwierig“, sagte der neue DFB-Kapitän Joshua Kimmich. Es habe sicherlich das eine oder andere Turnier gegeben, bei dem „Marc sich auch Chancen ausgerechnet hat, die Nummer eins zu werden, aber zur Nummer zwei gemacht wurde. Er hat es sportlich genommen“, sagte der Münchner. Nun gönnt er ter Stegen die Beförderung: „Ich freue mich für ihn, dass jetzt endlich für ihn die Tür aufgeht. Ich habe manchmal das Gefühl gehabt, in Deutschland wird unterschätzt, was er in Barcelona über Jahre geleistet hat.“

Das sieht auch der Gepriesene selbst so. Ein wenig Frust schwang da mit, dass seine Leistungen in Deutschland nicht immer angemessen gewürdigt wurden. Die Spieler im Ausland stünden eben „nicht so im Fokus“, sagte ter Stegen. „Es sollte nicht untergehen, was unsere Spieler machen, die im Ausland tätig sind und Deutschland repräsentieren.“ Das mit dem Repräsentieren war bei ihm dann eher von sporadischer Natur. Das Dasein als ständiger Vertreter habe ihm viel abverlangt. Aber in Selbstmitleid zerfließen? Nein, das ist nicht ter Stegens Ding, Aufgabe keine Option. Auch wenn es zarte Überlegungen mal gegeben habe, wie er verriet. „Am Ende glaube ich, dass ich professionell damit umgegangen bin“, sagte er.

Erneutes Aufeinandertreffen mit Neuer

Mehrmals war er drauf und dran, an dem übermächtigen „Türsteher“ vorbei den Weg ins Tor zu finden. Besonders schmerzlich waren natürlich die Degradierungen vor der WM 2018 und der Heim-EM im Sommer, als Neuer nach schweren Verletzungen jeweils gerade noch rechtzeitig zurückkam. „Boah, das ist wieder ein Schlag gewesen“, dachte er dann. Der Name seines ewigen und übermächtigen Rivalen kam ihm am Donnerstag nur selten über die Lippen. Ansonsten sprach der Torwart bei allem Respekt von „ihm“ und „jemandem“. Die möglicherweise unbewusste Botschaft könnte lauten: Manuel Neuer sollte nicht mehr länger Thema sein. Ganz ausblenden konnte er ihn aber nicht, und so lobte er. „Ich hatte es mit jemandem zu tun, der es in einer ganz tollen Karriere im Club und in der Nationalmannschaft immer wieder geschafft hat, sich davorzudrängen und immer gute Leistungen gezeigt hat“, sagte ter Stegen, dem dann doch noch zweimal in Nebensätzen „Manu“ herausrutschte. Der Spitzname jenes Mannes, dem er bald schon wieder begegnen wird. Auf Augenhöhe und als Kontrahent. Im Oktober empfängt Barcelona die Bayern in der Champions League.