Köln-Tatort „Abbruchkante“ im Ersten: Auf dem Weg nach Neu-Ballauf

26 Mär 2023
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Erstellt: 26.03.2023Aktualisiert: 26.03.2023, 12:13 Uhr

Von: Judith von Sternburg

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Stehlen sie da etwa eine Madonna aus einer Kirche? Klaus J. Behrendt (l.), Dietmar Bär, Barbara Nüsse in dem Köln-Tatort „Abbruchkante“. Foto: Martin Valentin Menke/Bavaria Fiction/WDR

Stehlen sie da etwa eine Madonna aus einer Kirche? Klaus J. Behrendt (l.), Dietmar Bär, Barbara Nüsse in dem Köln-Tatort „Abbruchkante“. © WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin

Der neue Tatort aus Köln hat es in sich. Alles an „Abbruchkante“ mit Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär ist Gold.

Frankfurt - Der beste Kölner Tatort seit Menschengedenken, und sieh an, das Buch ist von Eva Zahn und Volker A. Zahn, die zum Beispiel auch „Hubertys Rache“ schrieben. „Hubertys Rache“ war vor fast genau einem Jahr der beste Kölner Tatort seit Menschengedenken. Aber „Abbruchkante“ ist ein Tatort, um in Tränen auszubrechen. Mehrmals.

Zugleich muss man gut aufpassen. Noch bevor das Wort „Abbruchkante“ gepflegt an der Abbruchkante auftaucht und die wichtigsten Personen kurz ins Bild kommen und wie bei den „Waltons“ vorgestellt werden, aber nicht fidel, sondern mit der Melancholie, die über dem ganzen Film liegt, geschieht Erschütterndes. Ein altes Paar will sich gemeinsam das Leben nehmen. Sie tanzen noch einmal und das auch noch zu „Sleepwalk“ von Santo & Johnny, dann trinken sie den Sekt mit den Tabletten, dann kann er gerettet werden, sie nicht.

„Abbruchkante“, ein todtrauriger, großartiger Tatort aus Köln

Er wollte nicht, dass sie sich mit ihm umbringt, sie wollte nicht, dass er sich alleine umbringt. Und das ist wirklich erst der Anfang.

Vier Wochen später wird eine Leiche gefunden, in einem der leeren Häuser des bereits weitgehend verlassenen Örtchens. Der Tagebau rückt näher (das ist die Abbruchkante, wer so etwas nicht kennt, ist immer wieder frappiert davon, fasziniert, entsetzt), der neue Ort ist bereits gebaut. Darum sieht hier alles so seltsam aus, so übermäßig neu. Regisseur Torsten C. Fischer und Kameramann Theo Bierkens zeigen das mit Geschick, gerade so, dass man direkt irritiert ist, aber nicht genau weiß, weshalb.

Dann sind schon Schenk und Ballauf, Dietmar Bär und Klaus J. Behrendt, in Schenks aktuellem orangefarbenen Ford Mustang auf dem Weg zum Tatort und staunen selbst. Wird ihnen nachher auch um die Ohren gehauen, denn was wissen sie schon als Kölner, was los ist rund um den Tagebau. Seit 20 Jahren sind die Menschen hier damit konfrontiert, dass ihr Dorf verschwinden wird. Jetzt könnte das sogar noch aufgehalten werden, aber die kleine Gemeinschaft ist ja längst auseinandergeflogen.

Köln-Tatort „Abbruchkante“: So viel Hass und Traurigkeit ist selten in einem Fernsehfilm zu erleben

Es gibt die, die eisern in ihren Häusern geblieben sind und sich vom gelegentlich vorbeirasenden „Sicherheitsdienst“ des Konzerns schikanieren lassen müssen. Es gibt die, die umgezogen sind und mit der Entwurzelung schlechter fertigwerden, als sie dachten. Es gibt außerdem die, die zwar irgendwann erschöpft verkaufen wollten, aber nicht an den Konzern. Der Tote, der Arzt im Ort, hat gekauft. Das ist Teil des Kriminalfalls, kein weiteres Wort dazu.

So viel Hass, Verbitterung, Resignation und Traurigkeit, wie sich hier über die Jahrzehnte zusammengesammelt hat, ist selten in einem Fernsehfilm zu erleben. Nachher sieht man einen, der sägt alles auseinander, was er hat. Aber das ist nicht die Regel. Die meisten wurschteln sich durch, machen das Beste oder Schlechteste daraus. Man lernt den Nichtsnutz Yannik kennen, der sich als „Sicherheitsdienst“ gleich mit Ballauf anlegt. Er ist der Enkel des glücklosen suizidalen Paares vom Anfang. Peter Franke ist der Überlebende, der seines Leben nicht mehr froh werden wird. Lou Strenger ist die Frau des toten Arztes. Sie hat ein Kind und ein Alkoholproblem.

Köln-Tatort „Abbruchkante“: Unter jedem Dach ein Leben und eine Tragödie

Barbara Nüsse ist die Frau, die geblieben ist. Sie kann Ballauf und Schenk ein Obdach bieten, als der Mustang schlapp macht. „Abbruchkante“ ist auch eine grandiose Geschichte über das Festhalten und das Loslassen. Soll Ballauf, der durch eine unbedachte Bemerkung des Kollegen in eine interessante und tiefsinnige Krise stürzt, sein Leben ändern? Lydia anrufen? Das Risiko auf sich nehmen, dass er am Ende nach Neu-Ballauf ziehen müsste?

Keiner wird die Vergangenheit los, die Toten des Dörfchens mussten schon aus der Erde, aber ohnehin stecken sie in den Köpfen. Das verunglückte Mädchen zum Beispiel, auch eine wichtige Geschichte. Unter jedem alten und neuen Dach ein Leben und eine Tragödie.

„Tatort: Abbruchkante“, Sonntag, 26. März, 20.15 Uhr, ARD

Schenk und Ballauf begehen außerdem einen Diebstahl, einen schönen, lustigen und – so kommt es ihnen jedenfalls vor – richtigen Diebstahl. Dann wird selbst diese Geschichte wieder fein und klug auf den Fall zurückbezogen. Es gibt ein erschossenes Handy, auch das ist von Bedeutung. Es gibt schon wieder einen sehr niedlichen Dackel. Jütte, Roland Riebeling, bringt die Wendung ein: „Hätte, hätte Handtuchhalter.“ Alles an diesem traurigen Tatort ist Gold, auch die handverlesene Musik. Unter den Zuspielungen zu Olaf Didolffs Soundtrack Patrick Watsons „Melody Noir“, was man den Rest des Abends schluchzend oder einfach nur so weiterhören kann. (Judith von Sternburg)

RolleBesetzungMax BallaufKlaus J. BehrendtFreddy SchenkDietmar BärDr. RothJoe BauschNorbert JütteRoland RiebelingNatalie FörsterTinka FürstLydia RosenbergJuliane KöhlerYannik SchnitzlerLeonard Kunz
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