Tag der Deutschen Einheit: Zwei Parlamente plötzlich vereint
Stand: 03.10.2024 06:03 Uhr
Seit 34 Jahren ist Deutschland vereint. Vieles musste damals in Rekordzeit zusammenwachsen - auch der alte Bundestag in Bonn und die erste frei gewählte Volkskammer der DDR. Was wurde aus den Erwartungen und Wünschen?
"Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR", sagt Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin. Das Parlament, das sie leitet, ist das erste frei gewählte der DDR. Und diese Volkskammer feiert das eigene Ende.
Kurz danach tritt Gregor Gysi ans Rednerpult - gerade noch Mitglied der bisherigen Staatspartei SED und jetzt in der Nachfolgerin PDS. "Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990…" Und dann versinkt alles im Jubel. Das "beschlossen" schiebt Gysi erst nach einigen Sekunden nach.
Mit dem "Untergang" nahm seine Karriere Fahrt auf. Linken-Politiker Gysi sitzt noch immer im Bundestag und meint, es sei ihm damals wichtig gewesen, diesen Satz zu sagen. Um den einen die Angst und den anderen überzogene Hoffnungen zu nehmen. "Was ich noch nicht wusste, ist, dass die Unterschiede Ost-West im Jahre 2024 noch so groß sind, wie sie heute sind."
Linken-Politiker Gregor Gysi (links) ist bis heute Abgeordneter. Das "Amateurhafte" in der ersten frei gewählten Volkskammer habe "sogar Vorzüge gehabt", sagt er.
Die Volkskammer der DDR war ein Scheinparlament. SED und formal selbständige Blockparteien führten so etwas wie Demokratie auf. Doch im März 1990 wählten die Bürger ihr Parlament frei und plötzlich wurde die Demokratie nicht mehr inszeniert, sondern musste gelernt werden.
Viel Zeit blieb nicht, etwa ein halbes Jahr, und im Schnitt kam jeden Tag ein neues Gesetz. "Es war natürlich ein Amateurparlament", erinnert sich Gysi. Aber es sei dafür doch erstaunlich fleißig, erstaunlich gesprächig und durchaus beschlussfähig gewesen. "Ich finde, das Amateurhafte hatte sogar seine Vorzüge."
Nach freien Wahlen in der DDR gab es im April 1990 das erste Kabinett von Lothar de Maizère.
Amateure im Parlament - das heißt, da saßen keine Berufspolitiker, sondern Menschen, die auf einmal Abgeordnete waren, deren Leben sich innerhalb von wenigen Wochen und Monaten änderte.
Und so wurde die Ärztin Sabine Bergmann-Pohl plötzlich Präsidentin der Volkskammer. "Die Volkskammer war sehr viel lebendiger. Weil auch sehr viel höhere Emotionen da waren." In den Augen des Westens eine Laienspielertruppe, so erzählt es Bergmann-Pohl. "Wir hatten ja nichts. Wir hatten keine Räume für die Abgeordneten, wir hatten keine Telefone."
Sabine Bergmann-Pohl war Ärztin und wurde Präsidentin der Volkskammer.
Was es aber gab, waren Berater aus Bonn. Einer davon war Jürgen Rüttgers, der spätere Bundesbildungsminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Den Mauerfall hat er im Bundestag erlebt und dann hat es nur wenige Tage dauert, bis er in die DDR gereist ist.
Rüttgers war damals Parlamentarischer Geschäftsführer der Union, also ein Profi für Fragen des Parlaments. "Ich habe gesagt, ich kümmere mich mal um das Ost-Parlament.", erzählt er. Das heißt, Rüttgers wurde Dauergast in Ost-Berlin.
Nachdem die freie Volkskammer gewählt war, nahm er an den Fraktionssitzungen der Ost-CDU Teil, saß aber auch in der Volkskammer - als Besucher auf einem Stuhl am Rand. Er wurde ein gefragter Ratgeber, nicht nur für CDU-Abgeordnete. Die seien während der Debatten auf ihn zugekommen. Sie fragten zum Beispiel: "Wenn wir dann demnächst nach Bonn kommen, was bedeutet das für mich?" Es geht um Geld, Büros. Aber auch Tipps für die neue Karriere. Gespräche, die gelegentlich auch abends in der Kneipe fortgesetzt wurden.
Verkannte ErwartungenEs sind Monate, in denen sich alles rasend schnell verändert. Am 2. Oktober 1990 tagt die Volkskammer das letzte Mal. Zwei Tage später, Deutschland ist frisch wiedervereinigt, tagt ein neues gesamtdeutsches Parlament. 144 Abgeordnete aus der Volkskammer wechseln in den Bundestag, der sich symbolisch im Berliner Reichstagsgebäude trifft - obwohl das Parlament noch in Bonn sitzt.
Die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eröffnet die Sitzung. Sie spricht von einem freien Parlament in einem freien und geeinten Deutschland. "Die Atmosphäre war angespannt. Zugleich freudig und noch verkrampft", erinnert sich Süssmuth. "Ich habe damals nicht erkannt, wie viel an Erwartungen da war." Erwartungen, die im Laufe der Jahre enttäuscht wurden.
Das Parlament verändert sich, erzählt Süssmuth. Den neuen Abgeordneten sind andere Dinge wichtig. Es geht um den Umzug der Regierung nach Berlin oder die Frage von Abtreibungen - also den Paragraphen 218. Die Neuen aus dem Osten machten plötzlich ihre eigenen Papiere, so Süssmuth. "Und haben uns auch oft merken lassen: Ihr müsst euch verändern. Wir haben lernen müssen. Aber das war auch das Schöne daran. Ich bin heute um Vieles bereichert."
Voneinander lernenIn der Debatte am 4. Oktober 1990 spricht auch Gregor Gysi. Abgeordnete rufen dazwischen und Gysi fordert, ernsthaft zu streiten, verbunden "mit ein bisschen mehr Würde, ein bisschen mehr Toleranz und vor allem ein bisschen mehr Kultur".
Heute sagt Gysi trocken: "Nein, das ist nicht das Steckenpferd des Bundestages, die Würde zu pflegen." Er wünscht sich manchmal ein bisschen alte Volkskammer zurück. Und dabei denkt er an Sabine Bergmann-Pohl, die letzte Präsidentin - an den Anstand der CDU-Politikerin. "Sie konnte nicht grob sein. Das fehlt mir manchmal im Bundestag. So eine leichte Güte."
Eine leichte Güte - und ein anderer Blick. Ost und West, die voneinander lernen. Das sind Wünsche, die immer noch aktuell sind. Auch nach 34 Jahren.