EM 2024: Spanien gegen Frankreich ist der Kampf zweier ...

Spanien gegen Frankreich ist der Kampf zweier Fussballkulturen. Der Werdegang von Antoine Griezmann illustriert die Gegensätze

Spanien Frankreich - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Angriff gegen Abwehr, Technik gegen Athletik: Die EM-Halbfinalisten Spanien und Frankreich stehen für unterschiedliche Ansätze im Spielsystem und in der Talentausbildung.

Galt in Frankreich als zu klein und setzte sich dann in Spanien durch: der französische Offensivspieler Antoine Griezmann.

Mateusz Slodkowski / Getty

Vor zwanzig Jahren nahm der angehende Teenager Antoine Griezmann an einem Jugendturnier in Paris teil. Der Bursche aus dem Burgund hatte den Traum, Fussballprofi zu werden, und er hatte genügend Talent, dass er bei den Spitzenklubs des Landes vorspielen durfte. Doch dann wurde er immer wieder nach Hause geschickt: bei seinem Lieblingsklub Olympique Lyonnais und auch sonst überall. «Ich habe bei fast allen Vereinen der Ligue 1 ein Probetraining gemacht», erzählte er selbst einmal, «und immer gaben sie mir dieselbe Antwort: ‹Du bist zu klein.›»

An jenem Tag in Paris aber war auch ein Späher vom spanischen Klub Real Sociedad aus San Sebastián zugegen. Eric Olhats erinnerte sich später, wie ihn an Griezmann «vom ersten Moment an seine Technik überraschte, die Art seiner Ballberührungen». Nach dem Turnier steckte er Griezmann einen Zettel zu und sagte ihm, er solle ihn später zu Hause mit seinen Eltern lesen. «Möchtest du bei Real Sociedad spielen?», stand darauf. Nach einigem Überlegen wollte er, die Eltern stimmten zu, und man entwarf einen Plan, wonach er bei Olhats im baskischen Bayonne wohnen und zur Schule gehen sollte und täglich zum Training über die Grenze nach San Sebastián fahren würde.

Der Rest ist Geschichte: Griezmann, 33, avancierte zu einem der besten Angreifer seiner Zeit, zweimal wurde er Dritter bei der Wahl zum Weltfussballer, mittlerweile steht er bei 134 Länderspielen, 44 Toren und dem Landesrekord von 38 Assists.

Frankreichs «Dreier-Sechs» erinnert an die WM 1998

Griezmanns Werdegang ist mehr als anekdotisch, er verdeutlicht zwei unterschiedliche Fussballkulturen, die trotz ihrer Nachbarschaft unterschiedlicher kaum sein könnten. Wenn Spanien und Frankreich am Dienstag im EM-Halbfinal aufeinandertreffen, ist der Weg, auf dem sie dorthin gelangten, kein Zufall, sondern allenfalls eine Zuspitzung.

Spanien gilt als attraktivstes Team des Turniers und hat in fünf Spielen elf Tore geschossen. Frankreich steht einmalig kompakt, hat erst drei Tore erzielt (zwei Eigentore, einen Elfmeter), aber auch erst ein Gegentor hinnehmen müssen (per Elfmeter).

Insbesondere im Mittelfeld illustriert schon die Aufstellung die Unterschiede. Spanien spielt mit einem defensiven «Sechser», Rodri Hernández. Frankreich agiert an dieser EM jenseits seiner sowieso nicht verhandelbaren «Doppel-Sechs» gleich mit drei solcher physisch imposanten, auf Balance und Balleroberung bedachten Spielertypen: Aurélien Tchoauméni, N’Golo Kanté und Adrien Rabiot oder Eduardo Camavinga. Die «Dreier-Sechs» erinnert an die WM 1998, als der Trainer Aimé Jacquet mit Didier Deschamps, Emmanuel Petit und Christian Karembeu in der Startformation den Titel gewann.

Jacquet, ein wichtiger Mentor des damaligen Captain und heutigen «Sélectionneur» Deschamps, gehörte in den 1990er Jahren mit seinem Vorgänger und einstigem Chef Gérard Houiller zu den entscheidenden Figuren einer Kulturrevolution im französischen Fussball. In der Nationalmannschaft bootete er Individualisten wie Eric Cantona oder David Ginola aus, in der Direction Technique Nationale (DNT) am französischen Leistungszentrum Clairefontaine definierte er die Massstäbe der Fussballerausbildung. «Der Fussball von heute gestattet keine Spielereien, er ist Kampf», dozierte Jacquet.

Alte Weggefährten: Didier Deschamps und Aimé Jacquet vor der WM 2014.

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Seither werden Talente nirgendwo sonst in Europa so sehr nach ihren athletischen Voraussetzungen ausgesiebt. Sogar Röntgenaufnahmen werden angefertigt, um über den Knochenbau ihre körperliche Entwicklung zu prognostizieren. Ein technisch starker Spieler wie der nur 1,63 Meter grosse Alain Giresse aus dem spielerisch brillanten Frankreich der 1980er Jahre wäre heutzutage als Nationalspieler undenkbar. Und selbst Michel Platini hätte es womöglich schwer. Aus dem derzeitigen Team blieb nicht nur Griezmann (1,76 m) der Zugang zu den Akademien verwehrt – sondern ironischerweise auch dem heute gerade für seine läuferischen Qualitäten gefeierten Kanté.

Das Problem auch bei ihm: Die Körpergrösse von nur gerade 1,70 Meter. Kanté wurde so zum Spätstarter; erst mit 19 fand er mit US Boulogne überhaupt einen Verein, erst mit 23 spielte er mit SM Caen in der Ligue 1, erst in England beim damaligen Sensationschampion Leicester City fiel er der eigenen Nation hinreichend auf, um für «Les Bleus» nominiert zu werden. An dieser EM wurde Kanté, mittlerweile 33 Jahre alt und in Saudiarabien aktiv, bereits zweimal zum «Man of the Match» ernannt.

Spanien setzt stärker auf die technischen als auf die körperlichen Qualitäten

Spanien kommt in der jüngeren Geschichte derweil vom entgegensetzten Ende. «Los bajitos», die Kurzen, wurde die Mannschaft um Xavi, Andrés Iniesta, Cesc Fàbregas, David Silva oder David Villa genannt, die 2010 Weltmeister sowie 2008 und 2012 Europameister wurde. Als weltweites Rollenmodell löste sie die Franzosen von 1998 und des EM-Titels 2000 ab, statt Doppel- oder Dreier-Sechs dominierte das fast körperlose Kurzpassspiel Tiki-Taka, das so kindlich anmuten konnte, wie es klang.

Indem der damalige Nationaltrainer Luis Aragonés dem 1,70 grossen Regisseur Xavi die Verantwortung mit den Worten übergab «Hier bestimmen jetzt Sie», zog er die logische Konsequenz aus den Förderungsprioritäten im Land. Spätestens seit dem Transfer der niederländischen Fussballlehre zum FC Barcelona durch Johan Cruyff kamen in Spaniens Jugendabteilungen die technischen Qualitäten vor den körperlichen.

Erlebt hat das auch der Innenverteidiger Robin Le Normand, ein Franzose, der für Spanien spielt. Mit 19 entdeckte ihn Olhats, derselbe Real-Sociedad-Scout, der Griezmann förderte, vom damaligen Zweitligisten Brest, wo Le Normand nur für die zweite Mannschaft eingeplant war. Le Normand räumt ein, dass er in San Sebastián zunächst Adaptionsprobleme hatte: «Hier legen sie grösseren Wert auf deinen Umgang mit dem Ball, daran war ich nicht so gewohnt.»

Le Normand, der im EM-Halbfinal vom Dienstag gesperrt fehlt, wurde 2023 eingebürgert, so wie sein Verteidigerkollege Aymeric Laporte schon zwei Jahre zuvor. Der seit dem 15. Jahr bei Athletic Bilbao ausgebildete Baske fühlte sich von Deschamps ignoriert.

Training auf Spanisch – das typische «Rondo».

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Die notwendig empfundene Bedienung im Innenverteidiger-Pool der Franzosen veranschaulicht, wie das spanische System umgekehrt den physischen Aspekt der Talententwicklung vernachlässigt haben mag. Doch nachdem das Tiki-Taka seit 2012 erfolglos blieb, hat der gegenwärtige Nationaltrainer Luis de la Fuente, ein langjähriger Verbandstrainer mit breitem Überblick über die Talente im Land, auch die A-Auswahl modifiziert. Sein Spanien lebt in starkem Masse von den athletischen Qualitäten des Flügel-Duos Lamine Yamal und Nico Williams, derweil der Stratege Rodri deutlich mehr körperliche Präsenz einbringt als sein Vorgänger Sergio Busquets.

Bringt mehr körperliche Präsenz ein als sein Vorgänger Sergio Busquets: Spaniens Stratege Rodri Hernández.

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Im Vergleich zu den Rationalisten aus Frankreich bleibt Spanien freilich immer noch ein auf technische Fertigkeiten bedachtes und angriffslustiges Team. Die Sorge vor dem kühlen, pragmatischen Fussball des Gegners ist daher umso grösser. Von acht Pflichtspielen gegen Frankreich gewann Spanien nur eines; zuletzt gab es ein 1:2 im Nations-League-Final 2021. Und stark in Erinnerung ist auch noch der Achtelfinal an der WM 2006 in Deutschland. Auch damals traf eine junge, begeisternde «Selección» auf ein Frankreich, das mit seinem Fussball zum Einschlafen einlud. Doch die Franzosen konterten humorlos ein 3:1 heraus. Spaniens stilbildende Ära musste da noch warten.

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