Die Lage am Morgen: Mr. President und das gequetschte Protokoll

3 Stunden vor

Das Leben nach Sinwar

An diesem Freitag wird sich die Welt fragen, wie es weitergeht nach dem Tod von Yahya Sinwar. Das israelische Militär hat den Anführer der Terrororganisation Hamas nach offiziellen Angaben im Gazastreifen getötet. Er galt als Drahtzieher der Terroranschläge auf Israel am 7. Oktober. Und nun wird darüber gesprochen, ob es im Nahen Osten eine Aussicht auf Entspannung geben kann.

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Yahya Sinwar (im April 2022)

Foto: Mohammed Talatene / dpa

Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu sagte gestern Abend, der Tod des Hamas-Chefs biete die Chance auf Frieden in der Region. Israel habe »seine Rechnung« mit Sinwar beglichen, jedoch sei der Krieg »noch nicht zu Ende«. Man werde weitermachen, bis alle Geiseln zurück seien.

US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Tod von Sinwar in einem Statement als »guten Tag für Israel, die USA und die Welt«. Israel habe jedes Recht gehabt, die Führung und die militärische Struktur der Hamas zu beseitigen. Es gebe jetzt die Möglichkeit für einen »Tag danach« in Gaza – ohne die Hamas an der Macht, und für eine »politische Lösung, die eine bessere Zukunft für Israelis und Palästinenser gleichermaßen bietet.« Vizepräsidentin Kamala Harris erklärte, nun bestehe »die Möglichkeit, den Krieg im Gazastreifen endlich zu beenden«.

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock forderte von der Hamas die Freilassung aller Geiseln und die Niederlegung der Waffen. »Das Leid der Menschen in Gaza muss endlich aufhören«, sagte die Grünenpolitikerin am Abend.

Mehr Hintergründe lesen Sie hier: Sie nannten ihn den lebenden Toten 

Lahme Enten unter sich

In Berlin treffen heute zwei Männer aufeinander, deren Strahlkraft trotz ihrer mächtigen Ämter begrenzt ist: US-Präsident Joe Biden, dessen altersbedingte Patzer so offensichtlich waren, dass die Demokraten an ihm zweifelten. Und Bundeskanzler Olaf Scholz, dessen Unbeliebtheit so offensichtlich ist, dass viele in der SPD mit ihm hadern.

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Staatsmänner Biden (r.), Scholz beim G7-Gipfeltreffen in Italien im Juni

Foto: Michael Kappeler / dpa

Der Unterschied: Biden tritt zur US-Präsidentschaftswahl nicht mehr an und erwarb sich mit seinem Rückzug weltweit Anerkennung. Scholz hofft weiter auf ein Wirtschaftswunder und ist entschlossen, im nächsten Jahr noch einmal Kanzler zu werden – auch, wenn einige in seiner Partei lieber einen anderen Kandidaten aufstellen würden.

Gestern am späten Abend ist Biden in Berlin gelandet. Was bei seinem Besuch in der Hauptstadt geschieht, können Sie heute im SPIEGEL-Liveticker verfolgen. Von acht Uhr an halten die Expertinnen und Experten der Redaktion Sie über alle aktuellen Geschehnisse auf dem Laufenden.

Der US-Präsident musste den ursprünglich geplanten Termin wegen des Hurrikans »Milton« in Florida verschieben. Deshalb quetscht das Protokoll nun in kaum 20 Stunden, was eigentlich in zwei Tage hätte passen sollen. Große Reden nach historischem Vorbild (»Ich bin ein Berliner«) sind nicht vorgesehen. Trotzdem ist Bidens Programm straff für einen fast 82-Jährigen, der daheim in Washington am liebsten keine Termine nach 20 Uhr mehr wahrnehmen will.

Meine Kollegen aus dem Hauptstadtbüro nennen Bidens Programm ein »politisches Speeddating«: Empfang im Schloss Bellevue mit militärischen Ehren, Treffen mit dem Bundespräsidenten, Verleihung des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, Gespräch mit Scholz im Kanzleramt, Mittagessen. Zweites Gespräch mit Scholz, dann aber gemeinsam mit dem britischen Premier Keir Starmer sowie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der Minigipfel soll sich vor allem mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine befassen. Danach: Fahrt zum Flughafen. Abflug.

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Es sieht aus, als wolle Biden mit seinem Kurzbesuch noch ein transatlantisches Zeichen setzen, wenn auch ein sehr eingedampftes. Nach der Wahl am 5. November wird er quasi offiziell als Lame Duck gelten, als lahme Ente also, auch wenn die Vereidigung seiner Nachfolgerin oder seines Nachfolgers erst im Januar stattfindet.

Mehr Hintergründe hier: Warum Joe Biden in Berlin politisches Speeddating macht 

Die AfD als Standortrisiko

Die deutsche Wirtschaft schwächelt. Das ist keine exklusive Nachricht, ich räume das ein, täglich gibt es neue Alarmmeldungen. Das Land steckt in der Rezession. Ökonominnen und Ökonomen nennen dafür viele Gründe: die lahmende Binnennachfrage, den Mangel an privaten Investitionen oder die Unsicherheiten in der Weltwirtschaft, allen voran in China. Und da wären noch die strukturellen Probleme, die bei bröselnden Brücken beginnen und bei der lähmenden Bürokratie längst nicht enden.

Obai Mouayad an seinem Arbeitsplatz in Potsdam

Foto: Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL

Eines der größten Risiken für den Standort allerdings sitzt auf gepolsterten Parlamentssesseln. Sein Name ist AfD. Seit die Rechtsextremen bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg abräumten, geht bei vielen Unternehmen die Angst um.

Weil es an Arbeitskräften mangelt, sind sie auf junge, motivierte Zuwanderer angewiesen. Allerdings ist zu befürchten, dass es viele gut ausgebildete Fachkräfte wieder fortzieht. Oder dass sie gar nicht erst kommen, weil sie nun ein politisches Klima fürchten, in dem sie sich nicht respektiert fühlen. Ganz zu schweigen davon, dass die Bundesrepublik für viele High Potentials kein Sehnsuchtsort mehr ist. Weil die Beamtin im Bürgeramt bei der Anmeldung nur Deutsch spricht. Weil die Nachbarn ein wenig zurückhaltender sind als anderswo. Und weil Schnee im Winter nur dann romantisch ist, wenn man nicht durch den Matsch zur Arbeit stapfen muss.

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Der junge Syrer Obai Mouayad zum Beispiel macht in Potsdam seine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker und sagt, er habe das Gefühl, »nicht willkommen zu sein«. Für eine offene Gesellschaft ist das ein fatales Signal, für den Standort erst recht.

Meine Kollegen Markus Becker und Matthias Kaufmann aus dem Wirtschaftsressort haben recherchiert, wie düster der Blick der Unternehmen auf die AfD ist – und warum so viele Chefs dennoch die Rache der Rechten fürchten.

Die ganze Geschichte lesen Sie hier: Alarmstufe Braun 

Überraschung: Die Linkspartei ist noch da

An diesem Freitag beginnt der Parteitag der Linkspartei in Halle und zu den erstaunlichsten Erkenntnissen gehört für den einen oder die andere möglicherweise die Feststellung, dass es sie immer noch gibt. In Umfragen liegt sie inzwischen deutlich unter fünf Prozent.

Designierte Parteichefs Jan van Aken und Ines Schwerdtner

Foto: Steffen Roth / DER SPIEGEL

Wer schon bei den Namen der noch amtierenden Doppelspitze der Linken nicht ganz sicher war (kleiner Tipp: Sahra Wagenknecht war nie Parteichefin), der kann jetzt versuchen, sich die Namen der Neuen einzuprägen. Zur Wahl stellen sich am Samstag der langjährige Verteidigungsexperte Jan van Aken und die Publizistin Ines Schwerdtner.

Die beiden kennen Sie nicht? Vielleicht ist auch das für die Partei eine Chance, sich mit einer inhaltlichen Debatte neu auf- und auszurichten. Mich beschleicht seit Wochen der Zweifel, was es über eine Demokratie aussagt, wenn es reicht, als Partei ein bekanntes Talkshowgesicht und ein schmales Programm aufzustellen, um aus dem Stand zweistellige Ergebnisse bei Wahlen zu erzielen.

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Falls Sie glauben, ich würde damit auf das Bündnis Sahra Wagenknecht anspielen… Stimmt.

Womit wir wieder bei den Problemen der Linkspartei wären, die sich jetzt auch gegen Wagenknechts BSW behaupten muss. Meine Kollegin Anna Reimann und mein Kollege Rasmus Buchsteiner haben mit den beiden designierten neuen Linkspartei-Vorsitzenden gesprochen. »Die Partei muss endlich aufhören mit Selbstbeschäftigung. Ein erster Test, ob das gelingt, gibt es heute Abend, wenn der Parteitag über das heikle Antisemitismus-Thema debattiert«, sagt Rasmus.

Das Interview lesen Sie hier: »Das Reden über Migration dient als Ventil für zusätzlichen Frust« 

Lesen Sie hier den aktuellen SPIEGEL-Leitartikel

Rücksichtslose Boomer: Das Rentenpaket der Ampel bevorzugt die Alten und verschärft Ungerechtigkeiten zwischen den Generationen. Die jungen Abgeordneten im Bundestag sollten dabei nicht mitmachen .

Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz

Die Startfrage heute: Wer war der bislang einzige deutsche Nato-Generalsekretär?

Gewinner des Tages…

SPIEGEL Spitzengespräch – der Talk mit Markus Feldenkirchen

Foto:

Christian Mang / DER SPIEGEL

…ist das SPIEGEL Spitzengespräch, inzwischen in der 100. Folge. Für die Jubiläumssendung – zur Feier des Tages live im ausverkauften Heimathafen in Berlin-Neukölln – lud mein Kollege und Moderator Markus Feldenkirchen seine Stammgäste der vergangenen 99 Ausgaben ein.

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Ausverkaufter Heimathafen in Berlin-Neukölln

Foto: Christian Mang / DER SPIEGEL

Gregor Gysi von der Linkspartei rechnete vor, dass ihn jede Ukrainediskussion mit der FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann, die neben ihm saß, sechs Wochen Lebenszeit koste. Das Ausmaß dürfte demnach inzwischen bedenklich sein. Zum Trost überreichte Markus eine Karl-Marx-Büste mit blauem Auge. Warum CDU-Politiker Philipp Amthor an Grünenpolitikerin Ricarda Lang simste und wie Michel Friedman vor Donald Trump warnt – sehen Sie einfach selbst.

Frau Lang, wie erklären Sie Außerirdischen die Ampel? – »Kindergarten«

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

»Wir sind komplett am Boden zerstört über Liams Tod«: Liam Payne starb beim Sturz von einem Balkon – nun meldet sich seine Band One Direction: Man werde den Musiker »furchtbar vermissen«. Harry Styles verabschiedete sich in rührenden Worten.

Familie von Bonhoeffer warnt vor Vereinnahmung durch rechte Trump-Kreise: Amerikas Ultrarechte setzt die Kapitolstürmer auf eine Stufe mit Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis ermordeten. Die Nachkommen des Theologen sind entsetzt über diesen Missbrauch seines Vermächtnisses.

Extremregen flutet Frankreich – ein Toter in Paris: Solche Regenmengen hat es seit Menschengedenken nicht gegeben: In Frankreich stehen Stadt und Land unter Wasser, Autobahnen und Gleise sind unbefahrbar. Im Süden erließ der Wetterdienst Météo France die höchste Warnstufe.

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Diesen Text möchte ich Ihnen heute besonders empfehlen:

Schiffswerft Flensburger Schiffbau-Gesellschaft: »Man bastelt, schnackt viel, geht spazieren oder spielt«

Foto: Joerg Carstensen / picture alliance / Jörg Carstensen

»Warum geht Lars Windhorst so mit Menschen um?«: Ich weiß ja nicht, wie Ihre Arbeitstage so aussehen – bei der angeschlagenen FSG-Werft in Flensburg ist die Lage offenbar so: »Man bastelt, schnackt viel, geht spazieren oder spielt. Als das Wetter noch gut war, sind einige in der Förde geschwommen oder gingen angeln, andere schlafen stundenlang während der Arbeitszeit.« Diese Schilderung stammt von Betriebsratschef Jan Brandt, mein Kollege Alexander Preker hat mit ihm gesprochen. Was nach Freizeitspaß klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Die Mitarbeiter der Werft klagen über ausbleibende Aufträge und Sparzwänge. Zukunftsängste machen sich breit. Die Wut richtet sich vor allem gegen einen Mann: Investor Lars Windhorst. 

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihre Cornelia Schmergal, Ressortleiterin Wirtschaft

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