Serie „This is Going to Hurt“: Da fress ich doch meine Plazenta
Sie lassen sich nicht mehr zählen, die Kassandrarufe in Bezug auf den einstigen Stolz Großbritanniens: den 1948 gegründeten National Health Service (NHS), das staatliche Gesundheitssystem, das jeder im Vereinigten Königreich lebenden Person (sowie reisenden EU-Bürgern) eine kostenfreie medizinische Versorgung in Arztpraxen und Krankenhäusern garantiert. Zuletzt hat etwa der Vorsitzende des größten britischen Ärzteverbands British Medical Association (BMA), der Gynäkologe Philip Banfield, vor einem unmittelbar bevorstehenden „Kollaps“ des überlasteten Systems gewarnt. Die Patienten stürben auf Klinikfluren.
Einfach war die Situation des NHS nie. Privatisierungen und ein nicht angemessen gestiegenes Budget hat die Situation in den vergangenen Jahren verschlimmert, und dann kam noch die Pandemie hinzu. Viele NHS-Mitarbeiter, hieß es unlängst, kündigten ihren stressigen Job, um besser bezahlte Angebote an der Supermarktkasse anzunehmen. Andere Pflegekräfte treten immer häufiger in den Streik. Tausende Stellen sind unbesetzt. Dabei war eines der zentralen Versprechen der Leave-Kampagne, nach dem Brexit breche für den NHS eine goldene Zukunft an. Das Gegenteil ist eingetroffen.
Nichts scheint da weiter von der Wirklichkeit entfernt zu sein wie marktgängige, schlecht gealterte Krankenhausserien, die von „Emergency Room“ über „Grey’s Anatomy“ bis zum deutschen Endlosableger „In aller Freundschaft“ von der anästhesierenden Bewirtschaftung romantischer Arztklischees und softerotischer OP-Aufnahmen leben (auch wenn der Sex-Appeal medizinischer Masken zuletzt erheblich gelitten hat). Die auf Humor gedrehte Variante („Scrubs“; „Doctor’s Diary“) hat ihre beste Zeit wohl ebenfalls hinter sich. Dass es aber durchaus möglich ist, eine hochaktuelle Serie zu drehen, in der die Nöte des Gesundheitssystems nicht nur nicht beschönigt, sondern mit Charme und Wortwitz aufgespießt werden – ja: sogar den eigentlichen Plot darstellen –, das zeigt die erstaunliche BBC-Produktion „This is Going to Hurt“. Kein Special-Interest-Programm für die Lauterbachs dieser Welt: Sehr zu Recht wurde sie bei den jüngsten British Academy Television Awards, dem Pendant zu den amerikanischen Emmys, ausgezeichnet, unter anderem in den Nobelkategorien bester Schauspieler (Ben Wishaw als Klinik-Gynäkologe Adam Kay) und bestes Drehbuch (der echte Adam Kay, der seine autobiographische Vorlage adaptiert hat).
Schockierende Szenen mit Biss und WitzBen Wishaw spielt also den so engagierten wie ausgelaugten stellvertretenden Stationsarzt auf der Gynäkologie, genannt „Blagen und Gören“, eines durchschnittlichen, mithin zusammenbrechenden britischen NHS-Krankenhauses. Und er tut das bei aller augengeränderten Erschöpfung mit einer solchen Präsenz und mit so viel bitter-ironischer Würde – zumal in den direkt das Publikum adressierenden Passagen –, dass man ihm gebannt bei dieser Selbstkasteiung zuschaut, sogar dann, wenn seine Arme tief in Reproduktionsorganen stecken, Blutfontänen spritzen oder eine Esoterikerin vermeintlich ihre Plazenta futtert, bis ihr Adam erklärt, dass sich in der Schale Blutgerinnsel befanden.
Es geht gleich mit einer unvergesslichen Szene los. Noch auf dem Parkplatz der Klinik trifft der Arzt auf eine Hochschwangere in Geburtswehen. Das Kind ist bereits zu sehen, aber dann auch die Nabelschnur: ein Prolaps. Jetzt gilt es, mit der Patientin in der Knie-Ellenbogen-Lage auf einem Bett kniend, die Schnur an Ort und Stelle zu halten, damit die Blutversorgung nicht unterbrochen wird: So rast dieses Gespann, geschoben von mehreren Assistenzärzten, durch den Klinikflur wie einst Walter Whites Wohnmobil in der Eröffnung von „Breaking Bad“ durch die Wüste. Den Kaiserschnitt führt Adam Kay noch in Straßenkleidung durch, nur um dafür später vom hartherzigen, aber den Laden auch beisammenhaltenden Vorgesetzten Lockhart (Alex Jennings) kritisiert zu werden.
Video: ZDF, Bild: SISTER/BBC/BBC Studios/AMC. Pho
Ähnlich rastlos und dramatisch geht es weiter, so fordernd, dass das Privatleben von Adam Kay sich gar nicht erst entfalten kann. Die Beziehung mit Freund Harry (Rory Fleck-Byrne) tritt auf der Stelle, weil das Private immer an zweiter Stelle kommt. Im Krankenhaus lässt der gestresste Adam Dampf ab, indem er die ehrgeizige, aber überforderte Assistenzärztin Shruti (Ambika Mod), die am Tag arbeitet und in der Nacht für ihre Prüfung lernt, bis an die Grenze des Mobbings aufzieht; dennoch entwickelt sich ein Freundschaftsverhältnis. Noch in der ersten Folge macht wiederum Adam einen schweren Behandlungsfehler, dessen moralische und juristische Folgen sich über die gesamte Serie erstrecken. Immer wieder steht der Protagonist vor dem Dilemma, dass sich auch moralisch integre Klinikärzte innerhalb eines dysfunktionalen Systems nur mit Tricks und Rücksichtslosigkeit halten können.
So anklagend das alles klingen mag, liegt der Fokus von Adam Kays Drehbuch und der Regie von Lucy Forbes und Tom Kingsley darauf, wie innerhalb dieser von Missständen und hierarchischen Eitelkeiten geprägten Atmosphäre – und es handelt sich, so will es die Vorlage, um den seither noch stark verschlechterten Zustand des Jahres 2006 – doch eine Art partisanische Hilfsbereitschaft entsteht, ein trotziger Altruismus, der zu guten Teilen auf Selbstausbeutung beruht und die britische Gesellschaft letztlich auch durch die Pandemie gebracht hat. Dass Privatkliniken kein Ausweg sind, ganz im Gegenteil, macht eine spätere Episode deutlich. Gleichwohl steht die Frage im Raum – und wird perfekt untermalt vom Soundtrack von Pulp-Sänger Jarvis Cocker –, ob der Preis nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich nicht zu hoch ist, wenn ein öffentliches Gesundheitssystem derart auf Verschleiß gefahren wird. Noch eine Pandemie wird dieser englische Patient nicht überstehen.
This is Going to Hurt läuft am Sonntag, ab 20.15, auf ZDFneo (alle sieben Folgen), zudem jeweils sonntags, um 20.15 Uhr, in Doppelfolgen und in der ZDF-Mediathek.