Die Schweiz muss Resilienz aufbauen gegen globale Turbulenzen

Die Schweiz darf nicht ins Mittelmass fallen

Die Weltordnung wird labiler, die weitere Entwicklung ist nicht absehbar. Die Rückkehr zu einer stabilen Sicherheitsordnung ist wenig wahrscheinlich. Für die Schweiz bedeutet das: Sie muss resilienter werden, um in künftigen Stürmen zu bestehen.

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Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Die Schweiz als kleine exportabhängige Volkswirtschaft ist von den globalen Turbulenzen stark betroffen.

Michael Buholzer / Keystone

Die letzten drei Jahrzehnte waren geprägt von einer beispiellosen Globalisierungswelle, die – geleitet von der Idee des liberalen Kapitalismus – den Wohlstand auf dem Planeten massiv mehrte. Hunderte Millionen Menschen entflohen der bitteren Armut, viele arme Länder vermochten den Abstand zu den Industrieländern zu verkleinern, die Lebenserwartung nahm zu, die Anzahl durch Kriege getöteter Menschen reduzierte sich markant, um nur einige der Errungenschaften zu erwähnen.

Diese Epoche des Fortschritts ist brüsk zu Ende gegangen. Eine einigermassen stabile Sicherheitsordnung liegt in Trümmern, eine neue ist nicht in Sicht. Der Ukraine-Krieg ist dafür das schreckliche Symbol. Die derzeitige geopolitische Lage wird von einer epochalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie sowie Recht und Macht bestimmt. Eine mächtige autokratische Achse, bestehend aus Russland, China, Iran und Nordkorea, stellt sich dezidiert gegen die westlichen Werte, die auf der anderen Seite von Demokratien wie etwa den USA, der EU, Japan und Südkorea verteidigt und gelebt werden.

Die wachsende politische Impotenz der Uno und die vor allem im Ukraine-Krieg sichtbar gewordene Unfähigkeit der USA, zusammen mit der Nato gleichzeitig mehrere Konfliktherde zu befrieden, gibt regionalen Autokraten die Gewissheit, hier und dort Konflikte auslösen zu können, ohne mit einer wirksamen Bestrafung rechnen zu müssen. Das sehen wir zurzeit in mehreren Regionen, etwa in Nagorni Karabach, im Sudan, in Libyen, im Gazastreifen oder in Afghanistan.

Das alles führt zu einer labilen und dynamischen Weltordnung, deren Entwicklung unvorhersehbar ist. Die Rückkehr zu einer einigermassen stabilen Sicherheitsordnung, wie wir sie jetzt während einiger Jahrzehnte hatten, ist sehr unwahrscheinlich geworden. Ein optimistisches Szenario wäre eine Art Kalter Krieg mit gewissen vertrauensbildenden Mechanismen, die dafür sorgen, dass er kalt bleibt, eine pessimistische Art Dreissigjähriger Krieg, allerdings mit Atomwaffen statt Vorderladern.

Erschwerungen im Welthandel

Die neue Mächtekonstellation mit unterschiedlichen Werteräumen beeinflusst schon jetzt den internationalen Handel negativ. Protektionismus ist wieder salonfähig geworden, Handelshemmnisse aller Art nehmen zu, Sanktionsregime komplizieren den Handel, an die Stelle eines einigermassen transparenten Steuerwettbewerbs ist ein intransparenter Subventions-Dschungelkrieg getreten, und Unternehmen diversifizieren zur Reduktion einseitiger Abhängigkeiten ihre Lieferketten unter Inkaufnahme höherer Kosten.

Es dürfte für Exportunternehmen schwieriger werden, gleichzeitig auf mehreren Hochzeiten zu tanzen, beispielsweise der chinesischen und der amerikanischen. Umgekehrt ist klar, dass ein signifikanter Rückbau des globalen Handels alle ärmer macht und die Armut auf der Welt explosiv wieder ansteigen liesse. Deshalb wird die Globalisierung nicht einfach wieder verschwinden. Ein Bestand multilateraler Handelsregeln im Rahmen der WTO dürfte erhalten bleiben, und neue grossräumige plurilaterale Handelsregeln dürften entstehen, vornehmlich innerhalb der gleichen Werteräume.

Die Schweiz als kleine exportabhängige Volkswirtschaft wird von den gegenwärtigen globalen Turbulenzen stark betroffen, angefangen bei den erwähnten Handelserschwernissen über die erhöhte Kriegsgefahr bis zum massiv unterschätzten Demografieproblem. Da es uns seit vielen Jahren sehr gut geht, hält eine grosse Zahl unserer Mitbürger offenbar den Wohlstand für gottgegeben und unterschätzt, dass die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie vor einer derartigen Massierung vitaler Herausforderungen stand. Ich fürchte, dass ohne Reformen in zentralen Bereichen unser Erfolgsmodell auf Dauer gefährdet wäre.

Eine rationale politische Reformstrategie könnte vier Stossrichtungen umfassen: Auflösung unseres offensichtlichen Reformstaus, Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Erhaltung der finanziellen Resilienz und Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit. Auf die ersten drei will ich kurz eingehen.

Auflösung des Reformstaus

Der Reformstau betrifft erfolgskritische Schlüsselbereiche. Ich will vier davon hervorheben: die langfristige Sicherung der Altersvorsorge, ein zentraler Faktor des nationalen Zusammenhalts; die Sicherung des Zugangs zum wichtigsten Exportkunden, dem EU-Binnenmarkt, wo sich die Schweiz im Clinch zwischen einer Totalverweigerung von rechts und einer partikularegoistischen Blockade durch die Gewerkschaften befindet; die Sicherung der Stromversorgung, wo wir gleichzeitig mit stürmischen Elektrifizierungsinitiativen den Ausstieg der Kernkraft beschlossen haben; sowie die Anpassung der Neutralitätspolitik an das neue sicherheitspolitische Umfeld.

In all diesen zentralen Bereichen liegen machbare Lösungskonzepte vor. Dass wir bisher nicht weitergekommen sind, ist die Folge einer schleichenden Veränderung unserer bisher so erfolgreichen politischen Kultur der Konsensfindung. Zwei Veränderungen scheinen mir feststellbar: erstens ein sich abzeichnender Übergang von einer Selbstverantwortungs- zu einer Anspruchsgesellschaft sowie zweitens eine zunehmende Kompromissresistenz unseres immer polarisierteren Parteiensystems. Die Polparteien haben gemerkt, dass man mit eingängigen vermeintlichen Wahrheiten, auf denen man kompromisslos beharrt und die man gebetsmühlenartig wiederholt, Wahlen gewinnen kann. Deshalb ist ihr Interesse an Wahlerfolgen offensichtlich grösser als jenes an Lösungen.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen

Alles, was der Staat leisten muss, ist undenkbar ohne Unternehmen, die gut entlöhnte Arbeitsplätze anbieten, Steuern bezahlen, Lehrlinge ausbilden, Innovationen entwickeln, Risiken eingehen sowie gute Produkte und Dienstleistungen zu vernünftigen Preisen anbieten. Zwar hat die Schweiz punkto Standortqualität nach wie vor Spitzenratings.

Weil aber Konkurrenzländer aufschliessen und weil sich die von uns nicht beeinflussbaren Bedingungen verschlechtern, müssten wir alleine schon zur Erhaltung unserer Konkurrenzfähigkeit die Rahmenbedingungen permanent verbessern. Stattdessen tun wir systematisch das Gegenteil. Mit ständig neuen Auflagen, Vorschriften, Berichtspflichten, Haftungstatbeständen, Quotenregelungen, Einschränkungen der Arbeitsmarktflexibilität usw. erschweren wir das Unternehmertum weiter.

Natürlich geschieht auch in der Wirtschaft vieles, was die Menschen zu Recht erzürnt. Weder die Krisen der Swissair und der UBS noch kürzlich der CS hätten geschehen dürfen. Spitzensaläre für Versager sind ein Ärgernis, und Betrüger finden sich auch in der Wirtschaft. Aber das alles sind keine hinreichenden Gründe für Stimmungsmache einem hervorragend funktionierenden Wirtschaftssystem gegenüber, das uns einen Lebensstandard ermöglicht, um den uns praktisch alle Länder beneiden.

Erhaltung der fiskalischen Resilienz

Der Staat muss jene Instrumente bereitstellen, die ihm das Überleben unter Umständen ermöglichen, die er nicht beeinflussen kann. Der Modebegriff für diese Überlebensfähigkeit heisst Resilienz. Sie bedeutet einerseits, Widerstand gegen auftretende Gefahren leisten zu können, und andererseits über die Mittel zu verfügen, allfällige Schäden wieder zu reparieren, also die Kombination von Widerstands- und Regenerationsfähigkeit. Zurzeit stehen zwei Erfordernisse im Vordergrund: die Erhaltung der finanziellen Stärke der Schweiz und die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit der Armee.

Die finanzielle Stärke des Bundes kommt unter enormen Druck. Zum einen scheinen die partikularegoistischen Begehrlichkeiten von Interessengruppen – alle selbstverständlich im Gewande des Gemeinwohls – ungebremst zu wachsen. Zum andern steigen viele gesetzlich festgezurrte Ausgaben weit rascher als das BIP, etwa die Beiträge an die AHV oder an die Prämienverbilligung der Krankenkassen.

Unser politisches System bekundet Mühe, das Notwendige vom bestenfalls Wünschbaren zu trennen. Offensichtlich hat das scheinbar unbegrenzt sprudelnde Corona-Füllhorn die Illusion geweckt, alles sei problemlos finanzierbar, wenn nur die lästige Schuldenbremse nicht wäre.

Die Schuldenbremse darf aber auch in diesen schwierigen Zeiten nicht aufgeweicht werden. Ein unabhängiger Kleinstaat, der nur begrenzte Ressourcen hat, der vom Export lebt und dem in einer Krise niemand hilft (wie einem EU-Staat), muss finanziell überdurchschnittlich solide sein.

Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass uns künftig vermehrt Krisen drohen, die legitimerweise eine Durchbrechung der Schuldenbremse durch ausserordentliche Ausgaben erfordern. Es ist deshalb nötig, die überdurchschnittliche Resilienz des Kleinstaates nicht zu gefährden. Bundesrat und Parlament werden also nicht umhinkommen, ihrer wahren Verantwortung nachzukommen und auch schmerzhafte Prioritäten zu setzen.

Was es jetzt braucht, ist eine Schweiz, die sich an den runden Tisch setzt, um die vorhandenen Ressourcen mit den Herausforderungen des Landes in Einklang zu bringen. Es geht um nicht weniger als um die Wahl zwischen Erhaltung des Erfolgsmodells oder Abstieg ins Mittelmass.

Kaspar Villiger gehörte von 1989 bis 2003 dem Schweizer Bundesrat an.

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