Russland: Prigoschins letzter Angriff?
analyse
Stand: 24.06.2023 14:04 Uhr
Prigoschin und Putin - das war bislang eine Beziehung, von der beide profitierten. Nun stellt sich der Chef der Wagner-Truppe gegen die russische Führung. Wie kam es dazu - und welche Folgen hat das für alle Beteiligten?
Von Eckart Aretz, tagesschau.de
Dass Jewgeni Prigoschin nichts von der russischen Militärführung hält, dass er sie geradezu verachtet, daraus hat er schon lange kein Geheimnis gemacht. Immer schärfer und immer drastischer war in den vergangenen Monaten seine Kritik an Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow geworden.
Prigoschin warf ihnen vor, die Truppen im Krieg gegen die Ukraine nicht gut genug auszurüsten, machte sie für Misserfolge und hohe Verluste verantwortlich, beschuldigte sie der Verweichlichung und stellte sich auch gegen die offizielle Sprachregelung zum Krieg.
Jeder andere wäre dafür in Russland vor Gericht gezerrt worden - nicht aber Prigoschin. So entfaltete sich vor der staunenden nationalen und internationalen Öffentlichkeit über Monate auf offener Bühne ein Machtkampf im Zentrum des Systems Putin, der nun in einem Aufstand mündete.
Ringen um UnterordnungDieser steuerte zuletzt sichtbar auf einen neuen Höhepunkt hin: Alle Privatarmeen, von denen es in Russland nicht nur die Wagner-Truppe gibt, sollten sich bis zum 1. Juli dem Verteidigungsministerium unterstellen und Verträge mit ihnen unterzeichnen.
Das hatte Prigoschin - anders als zum Beispiel der Präsident der tschetschenischen Teilrepublik - abgelehnt, und welchen Ausweg es aus dieser Gemengelage geben könnte, blieb unklar.
Eine neue QualitätPrigoschin behauptete zuletzt, seine Truppe sei bereit gewesen, Zugeständnisse zu machen und Waffen abzugeben. Stattdessen habe die Armeeführung einen Raketenangriff auf Feldlager der Wagner-Truppen angeordnet und eine große Anzahl von Kämpfern getötet. Ob es diesen Angriff tatsächlich gab, ist unklar - die Armeeführung bestritt die Behauptungen.
Dennoch hatte damit die Konfrontation zum Ende der Woche hin eine neue Qualität erreicht. Prigoschin kündigte am Freitag einen Gegenschlag an, seine Kämpfer seien nun zu einem Einsatz gegen die Verantwortlichen für den Angriff ausgerückt.
Die russischen Behörden reagierenAn der Reaktion der russischen Behörden konnte Prigoschin ablesen, dass er - möglicherweise überraschend für ihn - auch außerhalb der russischen Streitkräfte auf Gegenwehr treffen würde und mit persönlichen Konsequenzen würde rechnen müssen.
Es seien Ermittlungen gegen Prigoschin wegen eines Aufrufs zum Militärputsch aufgenommen worden, hieß es am späten Freitag in Moskau, Kremlsprecher Dmitri Peskow teilte mit, alle notwendigen Schritte würden ergriffen, der Präsident sei informiert.
Ende einer vorteilhaften Beziehung?Der Präsident war bislang derjenige, auf den sich Prigoschin verlassen konnte. Beide kennen sich aus St. Petersburg, und unter Wladimir Putin gelang dem ehemaligen Strafgefangenen Prigoschin ein steiler Aufstieg vom kulinarischen Unternehmer zum Betreiber einer Privatarmee, die für den Kreml in vielen Konflikten auf anderen Kontinenten aktiv war.
Prigoschin war insofern ein typisches Produkt der Putin-Ära und ein offenkundig wichtiger Baustein in dessen Machtkonstrukt, das vor allem aus miteinander konkurrierenden Sicherheitsdiensten besteht.
Dieses fragile Gefüge, in dem sich Putin als Vermittler und als Bewahrer der Macht positionieren konnte, drohte durch die Eskalation zwischen der Wagner-Truppe und der Armee brüchig zu werden.
Ein offener Aufstand gegen den Verteidigungsminister, der Putin ebenfalls nahesteht - das war vielleicht der eine Schritt zu viel, auch wenn Prigoschin zunächst noch so sehr betonte, er richte sich nicht gegen den Präsidenten.
Rückzug abgeschnittenOb Prigoschin spekuliert hat, Putin werde ihn auch hier gewähren lassen, nachdem er nach außen hin den Konflikt zwischen der Wagner-Truppe und der Armeeführung in den vergangenen Monaten kommentarlos geschehen ließ, ist vorerst Spekulation.
Wohl aber musste Prigoschin nach der Ankündigung der Behörden, es werde gegen ihn ermittelt, klar sein, dass Putin ihm die schützende Hand entzogen hatte.
Ob dies Prigoschin - sei es aus Hasardeurtum oder Verzweiflung - darin bestärkt hat, seine Kämpfer Richtung Moskau zu schicken, mag dahingestellt bleiben, gewiss aber im Vertrauen auf die Kampfkraft und Loyalität seiner Truppen - und die von ihm kritisierte Verfassung der russischen Armee.
Folgen für den Krieg gegen die Ukraine?Für die russische Armee kommt die Revolte der Wagner-Truppe zu einem Zeitpunkt, da sie sich einer entfaltenden Offensive der ukrainischen Armee gegenüber sieht, der Russland bislang nach Ansicht von Beobachtern so standhalten kann, dass die ukrainische Armee vorerst langsam vorankommt.
Allerdings hat die Ukraine bislang offenkundig nur einen geringeren Teil ihrer für die Offensive eingeplanten Einheiten eingesetzt. Interne Streitereien und Kämpfe innerhalb der russischen Streitkräfte könnten diese deshalb schwächen und den Ukrainern in die Hände spielen.
In den vergangenen Monaten war die russische Armee auf die Wagner-Truppe angewiesen. Wie die Söldner-Truppe nach den Ereignissen an diesem Tag in die Armee eingebaut werden kann und ob sie danach noch über dieselbe Kampfkraft wie zuvor verfügen wird, ist eine weitere offene Frage an diesem Tag - wie auch die Folgen für die Wagner-Einsätze in Afrika.
Putins MisserfolgeDie Revolte könnte aber nicht nur den Krieg in der Ukraine beeinflussen, er könnte auch Putins Position schwächen. Der russische Präsident hat in 16 Monaten Krieg gegen die Ukraine - gemessen an den ursprünglichen Kriegszielen - wenig erreicht. Die Misserfolge, die Prigoschin Schoigu und Gerassimow vorwirft, sind auch Putins Misserfolge.
Zudem hat er Prigoschin erst ermöglicht, ein militärischer Faktor außerhalb bestehender Strukturen zu werden und dann dem Machtkampf lange zugeschaut. Die Russland-Expertin Margarethe Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik stellt auf Twitter fest, die jüngste Entwicklung zeige, dass die konkurrierenden Interessen "nur mehr schwer von oben kontrolliert werden können".
Klein weist darauf hin, dass Putin in seiner TV-Ansprache nur allgemein von "Verrätern" gesprochen und Prigoschin nicht namentlich genannt habe. Sie schließt daraus, dass Putin nun beobachten wolle, wer in der russischen Elite die Kritik Prigoschins teile - möglicherweise führe das zu "weiteren Säuberungen" und noch mehr Repressalien gegen die Opposition.
All das setzt voraus, dass Prigoschins Aufstand scheitert. Ob es so kommt, ist ungewiss. Bricht der Aufstand am Ende zusammen, dürfte Prigoschin da landen, wo er vor seinem steilen Aufstand schon einmal war: im Gefängnis.
Putins Position dürfe danach eine andere sein. Erstmals sieht er sich einem Angriff aus dem inneren Zirkel ausgesetzt, keiner, den er der Opposition oder äußeren Kräften zuschreiben kann. Nicht mehr unantastbar zu sein von seinesgleichen - das dürfte seine Herrschaft verändern.