Gescheiterter Wagner-Aufstand: Vier Erkenntnisse und noch mehr ...
analyse
Folgen für das System Putin Vier Erkenntnisse aus dem Wagner-AufstandStand: 25.06.2023 14:02 Uhr
Von Rebellion zum Rückzug in 24 Stunden - der Aufstand der Wagner-Truppe wirft ein Schlaglicht auf die Schwächen des Herrschaftssystems von Russlands Präsident Putin. Was folgt aus diesem Tag - für Putin, die Wagner-Truppe und den Krieg?
Von Eckart Aretz, tagesschau.de
Der Aufstand der Wagner-Truppe hatte frankensteinhafte Züge - es war die Erhebung eines selbsterschaffenen Monsters. Wladimir Putin hat die Entstehung von Privatarmeen in Russland über viele Jahre gefördert, und die Wagner-Truppe war die größte und bekannteste von ihnen.
Für Putin war das ein lange vorteilhaftes Konstrukt. Eine hochtrainierte Söldnertruppe wird in internationalen Konflikten und Bürgerkriegen wie in Libyen oder Mali und anderen Staaten eingesetzt und stärkt so Russlands Einfluss und strategische Möglichkeiten. Zugleich konnte Russland bestreiten, ein Beteiligter in diesen Konflikten zu sein.
Für die Wagner-Truppe wurde ein lukratives Geschäftsfeld geschaffen, das ihr unter anderem in den Konfliktgebieten Zugang zu Rohstoffen wie zum Beispiel Gold verschaffte. Der Krieg gegen die Ukraine machte aus der Wagner-Truppe einen innenpolitischen Faktor in Russland. Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin rekrutierte Kämpfer in Häftlingslagern und führte den Einsatztruppen in der Ukraine zusätzliche Kräfte zu.
Seine eigenen Kämpfer erwiesen sich in der Ukraine häufig als höher motiviert, und Prigoschin ließ das die Öffentlichkeit wissen. Ob die Angaben immer stimmten, steht auf einem anderen Blatt, die russische Armeeführung bezweifelte sie wiederholt öffentlich.
Da aber war Prigoschin schon kaum noch zu kontrollieren, und der Konflikt mit der Armeeführung um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerrasimow um Ausrüstung und Unterstützung eskalierte seit dem Herbst zusehends - bis hin zu angeblichen Angriffen der Armee auf Wagner-Soldaten und schließlich dem Aufstand vom Samstag.
Der Aufbau und Einsatz der Privatarmeen beruht auf dem Vertrauen in ihre Loyalität und Unterordnung in ein bestehendes System. Wie sehr sich aber solche militärischen Gruppen verselbstständigen können und dann das System gefährden, das sie geschaffen hat, hat spätestens der gestrige Samstag deutlich gemacht.
Die Schwäche der Armee und AufklärungsdiensteInnerhalb von nicht einmal 24 Stunden konnten sich die Wagner-Kämpfer - nach eigenen Angaben - Moskau bis auf 200 Kilometer nähern. Auf wesentlichen Widerstand trafen sie dabei nicht. Ob ein Weitermarsch in ähnlichem Tempo hätte durchgeführt werden können, steht dahin. Wichtige Militärstützpunkte wie in Rostow konnten die Aufständischen jedoch ohne größere Probleme unter ihre Kontrolle bringen.
Ein Grund dafür dürfte sein, dass die russische Armee einen erheblichen Teil ihrer Soldaten in die Ukraine oder in die Grenzregion verlegt hat. Der schnelle Vorstoß der Rebellen zeigt nun, wie es um die Verteidigung im Inneren bestellt ist.
Der Aufstand stellt aber auch eine Schlappe der Aufklärungsdienste dar. Sie haben die Revolte der Wagner-Kämpfer offenbar nicht kommen sehen. Nach Medienberichten sollen US-Geheimdienste dagegen schon vor einigen Tagen von entsprechenden Vorbereitungen erfahren und Mitglieder des Kongresses informiert haben. Die russischen Streitkräfte traf die Rebellion dagegen offenbar unvorbereitet.
Prigoschin als Alternative?Als 1992 Teile der Armee gegen den damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, putschten, stellte sich die Bevölkerung den Aufständischen entgegen. Davon ist aus Rostow und Woronesch nichts bekannt. Auf Twitter kursierende Videos sollen vielmehr Menschen zeigen, die die Wagner-Söldner begrüßten und denen sie ihre Unterstützung bekundeten.
Auch wenn es sich hierbei um zunächst nicht zu überprüfende Videos und möglicherweise um Einzelfälle gehandelt haben mag, so könnte sich hier doch andeuten, dass Prigoschin und die Wagner-Truppe zu einer Alternative für Unzufriedene in Russland geworden sind. Ein Faktor mag dabei gewesen sein, dass Prigoschin sich immer wieder an der Front gezeigt hat - anders als die Armeeführung, die sich dem Kriegsgeschehen nur selten aussetzte.
Erfolgreiche, brutale Kämpfer - und Ultra-Nationalisten: Diese Kombination spricht augenscheinlich inzwischen viele Menschen in Russland an, entspricht sie doch im weitesten Sinne den Botschaften, die Putin seit Jahren verbreitet. Opposition wird in Russland zwar verfolgt, aber Nationalismus ist erwünscht - das eröffnet einen Raum für Akteure wie Prigoschin, solange sie sich an die vorgegebenen Spielregeln halten. Der Aufstand der Wagner-Truppe zeigt das Risiko, das diesem Modell innewohnt - und seine Grenzen.
Putin ist nicht mehr unantastbarPutin hat dem immer lauter formulierten Ansprüchen Prigoschins und seinen immer derberen Angriffen auf die Armeeführung über Monate öffentlich kommentarlos zugeschaut. Am Tag der Revolte erwähnte er in seiner TV-Ansprache Prigoschin und die Wagner-Gruppe nicht namentlich. Seine Ankündigung, die Beteiligten an dem "Dolchstoß" zu verfolgen, blieb ohne Folge: Sie sollen nun einfach, wie schon vorher geplant, in die russische Armee eingegliedert werden, wenn sie dies wollen.
Putin gab in diesem Konflikt ein zögerliches und unentschlossenes Bild ab, das in starkem Kontrast zu dem Bild des entschlossenen Führers steht, das er sonst von sich zeichnet und zeichnen lässt.
Seine Macht beruhte nicht zuletzt auf seinem Stabilitätsversprechen: ein wie auch immer funktionierender Staat, der seinen Bürgern mehr oder weniger verlässlich ein zumindest geringes Niveau der Lebensführung garantiert, wofür die Bürger die Führung im Gegenzug gewähren lassen - dieses Modell hat nun einen Riss bekommen.
Gravierender noch: Putin stützte sich vor allem auf die offiziellen und inoffiziellen Sicherheitsdienste und war bislang der ausgleichende Faktor zwischen ihren konkurrierenden Interessen. Auch dieses Modell funktioniert nicht mehr im bisherigen Maße, wie der Aufstand der Wagner-Leute zeigt, auch wenn er sich ihren Worten nach zunächst nicht gegen Putin, sondern gegen die Armeeführung richtete. Aber dass Putin die Rivalität der Dienste in Grenzen hält, ist seit dem 24. Juni nicht mehr gegeben.
Was folgt daraus für Putin?Was dies für Putins Herrschaft mittel- und langfristig bedeutet, lässt sich noch nicht absehen. Der russische Präsident wollte sich nach übereinstimmender Einschätzung von Beobachtern im kommenden Jahr wiederwählen lassen, dafür hat er 2020 eine Verfassungsänderung in einem Referendum absegnen lassen.
Ob dieser Plan Bestand haben wird, ist unklar. Die Auswirkungen des vergangenen Samstags auf das interne Machtgefüge werden sich möglicherweise erst in den kommenden Wochen zeigen. Auffällig war das Schweigen führender Vertreter des Systems Putin wie Verteidigungsminister Schoigu, Generalstabschef Gerassimow oder der Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew.
Welche Dynamik die offen zu Tage getretene Schwäche Putins auslösen wird, wird eine der spannenden Fragen in den kommenden Wochen sein. Gewiss: Am Samstag stellte sich kein Vertreter der Elite hinter Prigoschin, sei es aus Überzeugung oder Kalkül.
Und doch steht mit dem Aufstand gegen Putin die Möglichkeit des Endes seiner Herrschaft für jeden Bürger sichtbar im Raum. Der Gedanke, es könne auch einen anderen Präsidenten als Putin geben, sei damit in den Köpfen der Menschen angekommen, sagt Russland-Expertin Leslie Schübel auf tagesschau24 - dies werde nun gewiss an den Esstischen in Russland diskutiert werden.
Was wird nun aus Prigoschin und Wagner?Auch das ist am Tag nach dem Aufstand alles andere als klar - welche weiteren Details die Übereinkunft enthält, die Alexandr Lukaschenko aushandelte, ist vorerst nicht bekannt.
So darf man rätseln: Was wird Prigoschin in Minsk machen? Was wird aus den anderen Unternehmen seiner Gruppe, was vor allem aus den Auslandseinsätzen seiner Söldner? Werden diese auch dem Verteidigungsministerium unterstellt und damit offizieller Einsatz Russlands? Wer finanziert sie in Zukunft? Welchen Raum lässt Putin Prigoschin und Wagner überhaupt noch, nachdem er durch den Aufstand derart bloßgestellt wurde?
Und umgekehrt steht auch die Frage im Raum, was aus Schoigu und Gerassimow wird. Können sie nach den jüngsten Ereignissen noch im Amt bleiben? Enthält die von Lukaschenko ausgehandelte Übereinkunft auch hierzu eine Absprache? All das ist bislang unklar, liegt als Frage aber auf dem Tisch.
Und was bedeutet das alles für den Krieg?Prigoschin konnte in den vergangenen Wochen auch deshalb immer offener und fordernder als militärischer Führer in Erscheinung treten, weil die Schlagkraft seiner Söldner im Krieg gegen die Ukraine offenbar eine erhebliche Rolle spielt.
Wie viele dieser Söldner eine Übereinkunft mit der russischen Armee unterzeichnen werden, ist fürs Erste ungewiss. Ob sie sich überhaupt weigern können, zu unterzeichnen, ebenso.
Die handfeste Rivalität zwischen beiden Einheiten war in den vergangenen Wochen offenkundig. Ob diese sich mit einer Eingliederung aus der Welt schaffen lässt, darf mit einem Fragezeichen versehen werden.
Es wird sich zeigen, ob dies die Schlagkraft der Armee im Krieg gegen die Ukraine beeinträchtigen wird - und welchen Nutzen die ukrainische Armee in ihrer Offensive daraus ziehen kann. Am Tag des Putsches setzte die Armee ihre Angriffe auf das Nachbarland unvermindert fort.